Die einen möchten klare Grenzen als Schutz vor der ausländischen Konkurrenz, die anderen eine vollständige Öffnung des Schweizer Marktes: Der Agrarfreihandel, vereinfacht dank dem Cassis de Dijon Prinzip bleibt in der Schweiz ein hoch brisantes Thema. Was ist davon zu halten?
1. Agrarprodukte: Stabile Produktion und Nachfrage
Die Lebensmittelnachfrage in der Schweiz ist bei einem jährlichen Bevölkerungswachstum von ca. 1 Prozent relativ stabil. Trotzdem wird immer wieder, bis auf Bundesratsebene, gefordert, die Landwirtschaft müsse produktiver werden. Weshalb?
- Um den Quadratmeter Agrarland wettzumachen, den wir jede Sekunde verlieren;
- Um die Produktionskosten zu senken
- Um von der Grenzöffnung zu profitieren, in der Hoffnung, die Rentabilität des Schweizerischen Agrarsektors zu erhöhen (1)
Weshalb fordern unsere Politiker den Agrarfreihandel, obwohl
a) die Doha-Runde (Freihandelsabkommen WTO) gescheitert ist? (2)
b) namhafte Ökonomen vorgerechnet haben, dass die vom Bundesrat prognostizierte BIP-Erhöhung nicht realistisch ist? (3)
c) keine Erhöhung des aktuellen Eigenversorgungsgrades geplant ist? (4)
2. Wachstumszwang der Industrie
«Die Grenzen des Wachstums» werden seit 40 Jahren öffentlich diskutiert. Ins Rollen gebracht wurde sie 1972 durch den Club of Rome (5). Trotzdem stehen industrielle Betriebe, auch diejenigen in der Nahrungsmittelindustrie, bis heute unter Wachstumszwang (6).
Wie aber lässt sich Gewinn steigern? Zum Beispiel durch eine Produktionsverlagerung ins Ausland, auch wenn dabei die Swissness verloren geht. Oder durch die hiesige Verarbeitung importierter Rohstoffe: Je billiger die Rohstoffe je grösser der Gewinn.
Bei Agrarprodukten entsteht der Mehrwert nicht in ihrer Produktion, sondern erst durch ihre Verarbeitung (Liste der Wirtschaftssektoren im Agribusiness >>>). Hier werden Gewinn erzielt; eine zukunftsfähige Landwirtschaft kann auf Grund ihrer biotischen Ressourcen nicht wachsen.
3. Globalisierung
Von «Swissness» kann bei Nahrungsmitteln dann die Rede sein, wenn mindestens 80 Prozent des Rohstoffgewichts schweizerischen Ursprungs sind und mindestens 60 Prozent der Herstellung/Verarbeitungskosten in der Schweiz anfallen (7). Rohstoffe wie Kakao oder Kaffee, die nicht in der Schweiz produziert werden, sind von dieser Regelung ausgeschlossen.
Das Interesse der Lebensmittelindustrie (d.h. den Verarbeitungsbetrieben) am Agrarfreihandel ist deshalb einfach nachvollziehbar und hat mit zukunftsfähiger Landwirtschaft nichts zu tun.
Entsprechend fiel auch die Wortwahl im Studienbericht der ETH und HTW Chur aus, den die beiden Hochschulen zuhanden der Economiesuisse, Migros, Nestlé (Schweiz) und IGAS über die Grenzöffnung auf die Schweizer Nahrungsmittelindustrie erstellt hatten (8).
4. Import – Export
Die ausländischen Handelspartner der Schweiz möchten freien Zugang zum Schweizer Markt. Sogar die Interessengemeinschaft Agrarstandort Schweiz (IGAS) gibt zu, dass der Zugang zum Schweizer Markt von ausländischen Verhandlungspartnern gefordert wird und nicht umgekehrt, dass die schweizerische Landwirtschaft Absatzmärkte sucht. (9)
In der Schweiz ist vor allem die Schweizer Nahrungsmittelindustrie an einer Grenzöffnung interessiert, die so einen billigeren Zugang zu Rohstoffen erhält. Folglich kann sie für den heimischen Markt kostengünstiger produzieren und die Swissness zu konkurrenzfähigen Preisen exportieren.
5. Politik und Lobby
Landwirtschaft ist in keinem Industrieland selbsttragend.
Der Agrarfreihandel bringt keine Zusatzverdienste für unsere Landwirtschaft (3). Weshalb fordern Schweizer Politiker trotzdem den Agrarfreihandel um jeden Preis? Und das obwohl andere Industrieländer (allen voran die USA) die WTO-Verhandlungen zum Scheitern brachten – weil der Agrarfreihandel für Industrienationen zu teuer kommt?
Die verarbeitende Industrie profitiert von Grenzöffnungen (in beide Richtungen).
Der Freihandel wird die lokalen Preise drücken, damit die Rentabilität der Landwirtschaft weiter schwächen und so die Reduktion der Landwirtschaftsfläche beschleunigen.
Ist das in unserem Interesse?
6. Selbstbestimmung
“Ernährungssouveränität heisst zu bestimmen, woher Nahrungsmittel kommen und wer sie unter welchen Bedingungen produziert” (10).
Damit wir auch künftig die Qualität unserer Lebensmittel wählen können, darf der aktuelle Eigenversorgungsgrad nicht mehr unterschritten werden, und die Landwirtschaft braucht gute, fruchtbare Böden und staatliche Unterstützung. Es ist ebenfalls zu bedenken, dass die Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt von Natur und Politik, respektive von ausserordentlichen Naturereignissen und politischen Allianzen abhängen.
Weiterführende Links:
- Kritik am Wachstumszwang; Interview mit Prof. H.C. Binswanger in der TAZ (2009) >>>
- Bundesamt für Landwirtschaft – zum Thema Freihandel EU – Schweiz >>>
- Landwirtschaft bei der WTO >>>
- Bundesrätliche Botschaft zur Änderung des Markenschutzgesetzes >>>
- Swissness im Parlament >>>
- Ressourcen und Sicherheit; Referat von Bundesrat U. Maurer >>>
- Rohstoff Nahrung; Artikel auf diesem Webportal >>>
- Neue Ansätze in der Landwirtschaftspolitik; Referat von BR Ueli Maurer >>>