Heute isst das gute Gewissen gleich zweimal mit: Alles auf meinem Teller ist gesund und dabei auch noch zertifiziert und aus nachhaltiger Produktion. Das stand zumindest auf den Kleberlis der Plastikverpackung. Nachhaltig essen, nachhaltig leben, regional und saisonal, das gibt doch ein gutes Gefühl. Denn Regionalität und lokale Verankerung sind unglaublich starke Themen.
Kleine Füsse seien schöner … und auch unser Essen soll einen kleinen ökologischen Fussabdruck haben.
Dass dieses Essen oft sehr weit gereist ist, bevor es auf unserem Teller landet, wissen wir heute fast alle. Schon in den 90er Jahren wurde untersucht, woher die Einzelteile eines Erdbeerjoghurts kommen. Das Ergebnis: Die Bakterien stammten aus Norddeutschland und wurden im Süden des Landes weiterverarbeitet, zusammen mit den Erdbeeren von polnischen Plantagen und Zutaten aus den Niederlanden. Schließlich sorgte eine Firma aus Düsseldorf dafür, dass die Etiketten auf den bayerischen Gläsern kleben bleiben. (1)
Muss man deshalb ein schlechtes Gewissen haben?
Man gönnt sich ja sonst nichts.
„In der ökologischen Gesamtbilanz fallen kürzere Transportwege weniger ins Gewicht als gemeinhin angenommen. Wenn jemand zum Beispiel nun extra mit dem Auto zum Bauernhof fährt, um Fleisch zu kaufen, kippt die Ökobilanz sehr schnell. Hier ist die hocheffiziente Warenlogistik, wie wir sie heute haben, deutlich ökologischer. Ob ein regionales Produkt jedoch insgesamt nachhaltiger ist, hängt letztlich wiederum von ganz vielen Faktoren ab wie etwa den verwendeten Rohstoffen, der Produktion und der Verarbeitung“, sagt Bruno Cabernard, Leiter Nachhaltigkeit bei Coop (3). Über 99% vom Fisch soll laut ihm aus nachhaltigen Quellen stammen. MSC-Zertifizert.
Greenpeace sieht das ganz anders: „Standards und Zertifizierungsanleitungen sind schwach und unklar formuliert, z.B. werden ausschliesslich Gifte und Sprengstoffe als zerstörerische Fischereimethoden aufgefasst. Grundschleppnetze, die das benthische Ökosystem zerstören, gehören nicht dazu. Erschöpfte Bestände können unter bestimmten Umständen weiter befischt werden. Das entspricht nach Ansicht von Greenpeace keiner nachhaltigen Fischerei, da so eine Erholung der Bestände nicht gewährleistet ist. Es gibt unpräzise Formulierungen, wie „Die Auswirkung durch die Fischerei sind bekannt und höchstwahrscheinlich innerhalb der Grenzwerte der nationalen und internationalen Anforderungen…“ so wie zu niedrige Mindestanforderungen an die Fischereien. Nur 60-80% der Standards müssen erfüllt sein, damit eine Fischerei das Gütesiegel erhält. Sobald 80% der Anforderungen erfüllt werden, ist kein Aktionsplan zur weiteren Verbesserung vorgeschrieben. Diese genannten Schwächen ermöglichten die Vergabe des MSC-Siegels an Fischereien, die aus der Sicht von Greenpeace nicht nachhaltig sind.“ (4)
Aus der Region – oder doch nur nur zu Zwei Drittel?
Also doch lieber auf den Fisch verzichten und dafür das Kalbfleisch aus der Region für die Region kaufen? Aber wie weit bedeutet denn eigentlich „meine Region“?
Bei der Einführung der Linie im Frühjahr 2014 hatte Coop betont, bewusst keine genaue Grenze festzulegen, hat jetzt aber eine Kehrtwende gemacht und mitgeteilt, ab Herbst 2015 müssten die Artikel aus einem Umkreis von 20 Kilometern rund um die Verkaufsstelle stammen. Bei der Migros-Linie müssen die Produkte „aus der Beschaffungsregion der jeweiligen Genossenschaft“ stammen. Oder doch nicht? „Bei nicht zusammengesetzten Produkten, bei zusammengesetzten Produkten sowie bei Spezialitäten muss die Wertschöpfung zu mindestens 2/3 in der entsprechenden Region generiert werden“, steht im Migros-Reglement zum Label. Und weiter: „Wenn landwirtschaftliche Zutaten in der entsprechenden Region nicht in genügender Menge und in der geforderten Qualität erhältlich sind, dürfen diese Zutaten, ausgenommen die Hauptzutat, aus der Schweiz stammen. Sind diese Zutaten, ausgenommen die Hauptzutat, in der Schweiz nicht in genügender Menge und in der geforderten Qualität erhältlich, dürfen importierte landwirtschaftliche Zutaten verwendet werden.“
Das hat der K-Tipp bereits 2012 unter die Lupe genommen mit dem Ergebnis: Die Migros karrt sie durch die halbe Schweiz. Die Ware für die Migros Ostschweiz etwa darf aus den Kantonen Schaffhausen und Thurgau, den beiden Appenzell, dem Fürstentum Liechtenstein sowie aus Teilen der Kantone Zürich, St. Gallen und Graubünden stammen. (5)
Bei den ganzen restlichen Produkten ohne Nachhaltigeits-Labels schaut das Ganze dann sowieso nochmal ganz anders aus.
Die Migros-Genossenschaften und Scana zum Beispiel verfügen über einen eigenen Fuhrpark von rund 540 Lastwagen, die jährlich etwa 30 Millionen Kilometer für die Belieferung der Supermärkte zurücklegen. Dabei wird betont, dass 84% davon mit „emissionsarmen Lastwagen der Euronormen 4, 5 und 6“ erfolgt. Ein bedeutender Anteil der Waren wird jedoch zusätzlich von externen Fuhrunternehmen transportiert. (6)
In der ganzen Schweiz werden 18 Millionen Tonnen Landwirtschaftliche Erzeugnisse 1.1 Milliarden Kilometer transportiert. Das heisst, dass sie im Schnitt über 60 km gefahren werden bevor sie zum Verkaufspunkt oder zum Verarbeitungspunkt kommen. Bei den Nahrungsmitteln werden 32 Mio Tonnen 2.3 Mrd km transportiert, d.h. durchschnittlich über 70 km. Wobei das ja gar nicht so viel ist, wenn man 10‘000 Sattelschlepper beschäftigen will (auch wenn die Hälfte der Transportladungen Sand und Kies ist) – denn so viele sind auf Schweizer Strassen unterwegs. (7)
Auch lebende Tiere werden von den Bauernhöfen zu den Metzgereien transportiert: Pro Jahr rund vier Millionen Rinder, Schweine, Schafe und Ziegen sowie rund 50 Millionen Hühner. Als Tierwohl-Kriterium ist ein Transportweg von höchstens sechs Stunden gesetzlich vorgeschrieben, auch für sogenannte „Labeltiere“. Diese Zeitspanne kommt nicht von ungefähr: genau so lange braucht man, um quer durch die ganze Schweiz von Chancy, der westlichsten Gemeinde, bis nach Müstair, der östlichsten zu fahren. In der Schweiz gibt es aber rund 30 grosse und mittelgrosse Schlachtbetriebe, also in jedem Kanton mindestens einen. Wer schon einmal sechs Stunden dichtgedrängt in einem überfüllten Zug hat stehen müssen, der kann sich ansatzweise vorstellen, wie „wohl“ es einem da noch ist – und das nicht wohltemperiert sondern in brütender Hitze oder Eiseskälte und auch noch mit Todesangst. Wobei das noch gnädig ist im Vergleich zur EU. Dort sind täglich 26 Millionen Schlachttiere auf den Strassen unterwegs, drei Viertel davon sind Ferntransporte. Tiere werden über Distanzen von 1‘500 bis 2‘500 km verschoben. Eine Zeitlimite für Transporte gibt es nicht. (8)
Und andere Transportwege?
„Im vergangenen Jahr transportierte SBB Cargo über 1 Mio. Nettotonnen und 75‘500 Wagen für die Migros im Binnen- und im Import-/Exportverkehr. Damit konnten insgesamt 11.000 Tonnen CO2 eingespart und die Strassen um rund 87.000 LKW Fahrten entlastet werden“, schreibt die Migros in einer Pressemitteilung. (9)
„Bei Produkten, die von weiter her kommen, ist es wichtig, dass die Waren nicht mit dem Flugzeug transportiert und die vorgegebenen sozialen Bedingungen eingehalten werden“, meint Coop dazu. (2)
Aha, darum ist die Bio-Mango, die ich mir manachmal leiste statt der billigeren konventionellen – für die eigene Gesundheit und diejenige des Planeten – , immer so fade und steinhart. Weil sie noch völlig unreif gepflückt und dann sechs Wochen auf dem Schiff hierher transportiert wird. Aber dafür ist sie nachhaltig.
Was ist denn jetzt nachhaltig und was nicht?
„Für die Nachhaltigkeit ist die Herstellung der Rohstoffe und Produkte jener Teil der Wertschöpfungskette, der über die Nachhaltigkeit entscheidet.“ (3)
Nicht verstanden?
„Kaufen Sie in Geschäften ein, die Nachhaltigkeit umfassend und in allen Bereichen umsetzen. Schätzen Sie die hohe Qualität und den Wert der Lebensmittel.“ (3)
Danke für den guten Rat – deshalb bin ich jetzt Mitglied in einer Gemüsegenossenschaft in meinem Dorf und habe ein Gemüseabonnement. Denn hier ist der Kreislauf noch intakt und überschaubar und die ökologische, soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit nicht einfach ein trendiger Begriff, sondern gelebter Alltag … und dann braucht sie auch kein Label.