Kapitalismus, Industrie und Pandemie
26 März 2021 0
Ist von der Coronapandemie die Rede, hört man häufig, es handle sich dabei um höhere Gewalt, ein Naturereignis, auf das der Mensch keinen Einfluss hatte. Das ist schlicht Unsinn. So wenig die Coronapandemie eine «Plandemie» global vernetzter Finsterlinge – sei es satanistischer, exoterrestischer, reptiloider, oder jüdisch/bolschewistischer Prägung – ist, ist es eine Wirkung sogenannt höherer Gewalt. Die Pandemie ist weder gewollt noch geplant, aber dennoch – zumindest grobfahrlässig – menschengemacht.
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Etliche Epidemiologen und Biologen warnen bereits seit mehreren Jahrzehnten vor kommenden globalen Seuchen. Wie in den 80ern, als man die Ursache der rätselhaften Seuche AIDS, den HI-Virus entdeckte, handelt es sich auch bei Covid 19 um ein zoonotisches Virus. Also vom Tier auf den Menschen übertragen. Coronaviren sind bereits seit 20 Jahren bekannt. Diesmal kommt die Seuche aus China, was exakt den Prognosen der warnenden Stimmen von vor etwa 20 Jahren entspricht.
Zu diesen Mahnern gehört auch der New Yorker Evolutionsbiologe Rob Wallace, der insbesondere die Agrar- und Fleischindustrie für Corona und andere epidemischen Zoonosen verantwortlich macht. Nach seiner Promotion 2002 an der City University of New York arbeitete er als Phylogeograph. Anhand genetischer Sequenzierungen untersuchte er die Herkunft von Viren und ihre evolutionäre Dynamik, publizierte in renommierten wissenschaftlichen Journalen und beriet nationale und internationale Institutionen. Den Grossteil seines Berufslebens hat er mit der Erforschung und Bekämpfung von Epidemien verbracht.
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Doch die halbherzige globale Seuchenkontrolle und die einhergehend schlampige Arbeit der entsprechenden Wissenschaft, hat ihn aus der praktischen Forschung getrieben. Seit 2019 leitet er das Agroecology and Rural Economics Research Corps in St. Paul, Minnesota. Eine Initiative, die regenerative landwirtschaftliche Methoden erforscht und umsetzt. Das Ziel sei eine «antikapitalistische Landwirtschaft». Bereits in seinen Reportagen über Influenza, Agrarindustrie und die Natur der Wissenschaft kritisierte er die industrielle, kapitalistische, oder im Fall China staatskapitalistische Agrarindustrie hart.
Schon bei der Untersuchung der Vogelgrippe-Epidemie 1997 kamen ihm Zweifel an den gängigen wissenschaftlichen Methoden. Die damaligen gesellschaftlichen Umwälzungen in China drängten sich ihm als Erklärung geradezu auf. Die «ökonomische Liberalisierung» kostete laut Wallace vielen Chinesen zunächst ihren angestammten Arbeitsplatz. Die massive Völkerwanderung vom Land in die prosperierenden Städte führte zwar allgemein zu mehr Wohlstand für viele, aber Landwirtschaft und Fleischerzeugung wurden völlig umgewälzt und in rasantem Tempo industrialisiert. Der Internationale Agrarsektor orientiert sich immer stärker am Weltmarkt und wird mittlerweile zu mehr als der Hälfte von wenigen multinationalen Konzernen dominiert. Laut Wallace hatten diese Entwicklungen auch Folgen für die Evolution der Influenza. Aber in der wissenschaftlichen und gesundheitspolitischen Debatte der grossen internationalen Institutionen wird die Kritik zwar zur Kenntnis genommen, Massnahmen hingegen blieben aus.
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Und so ist es im Wesentlichen bis heute. Rob Wallace kritisiert in seinem neuen Buch «Was COVID-19 mit der ökologischen Krise, dem Raubbau an der Natur und dem Agrobusiness zu tun hat» die Pharmaindustrie als dysfunktional, weil Infektionskrankheiten allgemein als zu wenig gewinnbringend eingestuft werden. Die WHO beschreibt er als «diplomatische Bühne, auf der die Weltmächte ihre Querelen austragen, statt wirksame Massnahmen zu ergreifen.» Laut Wallace wird die internationale Seuchenbekämpfung den nationalen Interessen untergeordnet und die USA versuchen, China an den Pranger zu stellen. Rob Wallace bemüht sich um eine ausgewogene Darstellung, spart aber nicht an Kritik auch an den chinesischen Behörden.
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Seine Erfahrungen auf dem Gebiet der Influenza extrapolierte Wallace auch auf die neuen Bedrohungen, namentlich die Coronaviren, die bereits seit 2002 bekannt sind. Die von Rob Wallace skizzierte »politische Virologie« ergänzt die politische Ökonomie durch biologische Zusammenhänge. Damit einhergehend ensteht das Bild davon, wie umfassend der Kapitalismus und Konzerne die Natur zusehends vereinnahmen und im Sinne ihrer kurzfristigen Profitinteressen umformen. Vielleicht als erster analysiert Wallace komplex die Zusammenhänge von Corona (und anderen Seuchen) mit Freihandelsverträgen, der Zerstörung natürlicher Lebensräume, Palmöl-Plantagen und Finanzkapital.
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Die heutige Landwirtschaft stösst an gewisse Grenzen, die aber der Kapitalismus naturgemäss nicht akzeptieren kann. Der Aberglaube der funktionierenden und alleinseligmachenden kapitalistischen Wirtschaftsordnung braucht die Illusion des unbegrenzten und ewig währenden Wachstums, wie der Fisch das Wasser. Schon in den 1870er Jahren beschrieb Friedrich Engels, wie die kubanische Plantagenwirtschaft Wälder so rücksichtslos abholzte, dass der Boden fortgeschwemmt wurde. Wir beherrschen die Natur nicht «so, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht», so Engels. Wir gehören ihr an. Unsere besondere ökologische Rolle beruht nur darauf, dass wir «ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden» können. Die Wachstumsgrenzen sind schon längst überschritten. Nur fehlt es global am politischen Willen zum Wandel.
Die Umweltzerstörung zu Gunsten schnellen Geldes hat sich seit dem 19. Jahrhundert um ein vielfaches potenziert. Regenwälder, Savannen, Mangrovensümpfe oder wichtige Laichbiotope für die Fischpopulation sind in einem Umfang dem kapitalistischen Raubbau zum Opfer gefallen, wie ihn sich vermutlich Marx und Engels nicht einmal in ihren düstersten Visionen vorgestellt hatten. Und zu allem Elend haben sich eben auch die sozialistischen Staaten an der Zerstörung und Ausbeutung der natürlichen Ökosysteme beteiligt.
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Das immer drastischere Eindringen der industriellen Landwirtschaft in natürliche Lebensräume hat, gemäss übereinstimmender Beobachtung der Wissenschaft, seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts eine verstärkte Dynamik bei Infektionskrankheiten verursacht.
- Die Krankheitserreger springen zunehmend von Tieren auf Menschen über.
- Das Risiko, dass eine Seuche sich innert kürzester Zeit über den gesamten Globus verbreiten könnte, steigt durch die Globalisierung mit ihren Billigflügen in die hintersten Winkel der Erde und globalen Lieferketten.
- Die Ausbrüche der Vogelgrippe (Influenza-A-H5N1) im Jahr 1997.
- Schon 2002/03 trat erstmals ein potentiell tödlicher Coronavirus namens SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome SARS) auf den Plan.
- 2009 folgte die Schweinegrippe (Influenza A H1N1)
- Drei Jahre später MERS (Middle East Respiratory Syndrome), ebenfalls ausgelöst durch ein Coronavirus.
Neben neuen Erregern greifen böse alte Bekannte wie das Ebola- und Zika-Virus mit stärkerer Wucht um sich. Auch das Denguefieber, das von Stechmücken übertragen wird. Unter Wild- und Hausschweinen wiederum grassiert seit 2014 die wahrscheinlich grösste Tierseuche der Geschichte. Das Virus der Afrikanischen Schweinepest verbreitete sich von Afrika nach Asien, weiter bis China und tötete dort über die Hälfte der Schweine-Population. Vor drei Jahren tauchten die ersten Fälle in Rumänien auf und seither verbreitet sich die Pest westwärts nach Europa aus. Die Zusammenhänge mit Globalisierung, Industrieller Landwirtschaft und der Zerstörung natürlicher Lebensräume liegen auf der Hand.
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Die WHO und der Mainstream der Gesundheitswissenschaft ignorieren bis heute, mitten in der Pandemie, derartige Zusammenhänge. Öffentlich betonen die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Funktionäre und Funktionärinnen zwar, dass soziale und ökologische Faktoren wichtig seien. Aber es bleibt bei Lippenbekenntnissen. Rob Wallace zog dazu das Fazit, «dass die politischen Machtverhältnisse nicht nur die Infektionskrankheiten prägen, sondern auch die Wissenschaft, die sich mit ihnen beschäftigt».
Laut Wallace lässt sich Krankheitsgeschehen und die Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht trennen. Und für Virologie und Bakteriologie gilt das auf besondere Weise. Die Erreger vermehren und bewegen sich in gemachten Lebensräumen. Wir könnten daher ihre Evolution und unsere Anfälligkeit bis zu einem gewissen Grad kontrollieren.
COVID-19 ist eine Katastrophe mit Ansage. Laut der deutschen Wochenzeitung die Zeit war «unter Fachleuten von dem Ausbruch niemand überrascht, die WHO spielte schon lange unter dem Platzhalternamen ›Disease X‹ Szenarios durch». In Deutschland initiierte die Bundesregierung 2006 die «Nationale Forschungsplattform Zoonosen», in der das Robert-Koch-Institut (RKI, zuständig für die Erforschung der Bevölkerungsgesundheit), das Friedrich-Loeffler-Institut (zuständig für Tierseuchen) und das Paul Ehrlich-Institut (zuständig für Impfstoffe) zusammenarbeiten. Das Bundesforschungsministerium förderte 95 wissenschaftliche Projekte zu Zoonosen, mit Themen von «Antibiotikaresistenz» bis «Zukünftige Risikogebiete». Die Gefahr einer pandemischen Zoonose war den einschlägigen Wissenschaftlern und bei den zuständigen staatlichen Stellen durchaus bekannt. Ein Fakt, der natürlich die Fantasie der Verschwörungstheoretiker aller Fraktionen zusätzlich befeuerte.
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Es gab nicht nur Warnungen, sondern auch Planspiele zur Pandemie. 2012 entwickelte das RKI zusammen mit anderen deutschen Bundesbehörden ein Szenario mit dem Namen «Pandemie durch Virus Modi-SARS». Das Szenario beschreibt viele Aspekte der COVID-19-Pandemie präzise, andere Annahmen sind immerhin plausibel. Die Tatsache, dass Todesopfer durch grössere Spitalkapazitäten hätten verhindert werden können, war in dem Planspiel durchaus präsent.
Warum hat dann niemand rechtzeitig etwas unternommen? Die Antwort ist einigermassen peinlich: Die Verfasser der entsprechenden Szenarien haben sich bei der «Eintrittswahrscheinlichkeit» ihrer Planpiele offenbar gehörig verhauen. Sie schätzten die Wahrscheinlichkeit einer globalen Pandemie auf «einmal alle 100 bis 1000 Jahre» ein. Daher sahen die Behörden offenbar keinen unmittelbaren Handlungsbedarf bei der Beschaffung von Vorräten an Schutzkleidung, Schutzmasken und Beatmungsgeräten, und schon gar nicht um ausreichend Personal in den Gesundheitsämtern und Krankenhäusern einzustellen. Denn die Gesundheitsökonomen des «freien Westens», so auch in der Schweiz, rechnen für gewöhnlich mit der möglichst kostengünstigen Aufrechterhaltung des Status Quo. Die Wahrscheinlichkeit, ja Unausweichlichkeit von Ausnahmesituationen scheint nicht zum Lehrplan von neoliberalen Ökonomen und Unternehmensberatern und -beraterinnen zu gehören, die in den letzten Jahrzehnten regelmässig im Gesundheitswesen den Rotstift geschwungen haben, wie den Zweihänder auf dem Schlachtfeld.
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COVID-19 sollte uns laut Wallace als letzte Warnung dienen. Das Virus zeigt uns die Verwundbarkeit unserer Zivilisation. Bisher hatte die Menschheit Glück. Epidemien wie MERS und SARS konnten nochmal eingedämmt werden. Das gelang bei COVID-19 nicht und wie viele Menschen daran noch sterben werden steht trotz Impfstoffen in den Sternen. Der nächste Erreger kommt bestimmt. Und wer garantiert uns, dass dieser dann nicht wütet, wie seinerzeit die Pest?
Zoonosen gibt es, seit der Mensch Landwirtschaft betreibt. Doch je mehr überregionaler Handel stattfindet, um so schneller verbreiten sich Epidemien. Wegen der Zerstörung ihrer Habitate werden Tiere wie Fledermäuse, Füchse, Amseln oder Ratten zu «Kulturfolgern», die sich bestens in Städten und anderen Kulturlandschaften einleben, aber eben auch neue Krankheitsrisiken einschleppen. Zu dem Problem der Wildtierpopulation kommt die industrielle Viehzucht, die gemäss Rob Wallace einer regelrechten Virenzucht gleichkommt. «In der Massentierhaltung entstehen neue Erreger, die bekannten Beispiele sind die Schweinegrippe, SARS und MERS. Die industrielle Fleisch- und Eierproduktion drängt Nutztiere auf engem Raum zusammen und schwächt ihre Immunsysteme auf vielfältige Weise. Sie schaltet die natürliche Auslese aus und verhindert eine Anpassung durch Fortpflanzung vor Ort. Unter diesen Umständen müssen die Betreiber Impfungen und grosse Mengen antibiotischer Mittel einsetzen, die zu Resistenzen führen.»
Zwar schwächte wenigstens in den Industrialisierten Ländern die bessere medizinische Versorgung, Impfprogramme, Ernährung und Hygiene Verbreitung und Verlauf der Krankheiten ab. Doch in den ärmeren Regionen schlagen die neuen Seuchen mit voller Wucht zu und auch in Europa und den USA leben immer mehr Menschen in Armut, mit mangelnder medizinischer Versorgung und leiden unter krasser Fehl- oder Unterernährung.
Die Lösung ist einfach, naheliegend – aber unter kapitalistischen Verhältnissen völlig utopisch: Weltweite Mindeststandards für Ernährung, Hygiene und medizinische Versorgung. Die WHO hingegen setzt auf Seuchenkontrolle und frühzeitige auf Erkennung und Eindämmung durch die jeweiligen Nationalstaaten. Die Wissenschaft beschränkt sich auf bessere Prognostik und Diagnostik.
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Die Kräfte, die aber die Hauptverantwortung für neue Zoonosen sind, können ohne jede Einschränkung mit ihrem globalen Vernichtungszug weitermachen:
Die, für die Industrielle Nahrungsmittel und vor allem Fleischindustrie verantwortlichen Konzerne bekommen durch Freihandelsabkommen (wie etwa mit Indonesien) und zum Beispiel die imbezile Umweltpolitik des brasilianischen Präsidenten Bolsonaro immer freiere Hand, die Lebensräume von Wildtieren zu zerstören.
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Wallace Beweiskette ist lückenlos. Dennoch wird die industrielle Landwirtschaft, der ökologischeren, sichereren und auf lange Sicht auch ertragreicheren bäuerlichen und regionalen Landwirtschaft überall auf der Welt weiterhin massiv vorgezogen. Das Goldene Kalb des Kapitalismus, das unbegrenzte Wachstum, ist im Begriff, sich selbst, mit katastrophalen Folgen, insbesondere für die ärmeren Menschen, zu schlachten.
Rob Wallace hegt keine romantischen Vorstellungen über eine globale Rückkehr zur Natur. Er warnt lediglich davor, dass wir uns mit unseren bisherigen Methoden der Beherrschung der Krankheitserreger in eine Sackgasse manövriert haben, aus der es dringend einen Ausweg und dafür letztlich einen Systemwechsel braucht.