Das Recht auf Nahrung
Einleitung
Es ist ein Grundrecht, aber es scheint eine Utopie zu bleiben: Das Recht auf angemessene und gesunde Ernährung.
Dazu gehören
– Zugang zu Nahrung
– Gut Essen, also gesundes und schmackhaftes Essen. Der Zugang zu ultraverarbeiteten Lebensmitteln reicht nicht aus. Weltweit sind 3 Mia Menschen fehlernährt (in der Schweiz ist jede dritte Frau und jeder zweite Mann übergewichtig oder fettleibig).
– Gerechter Preis für Lebensmittel für ProduzentInnen und EsserInnen. Sonst ist die Produktion nicht nachhaltig.
Dieses Recht ist aktuell nicht gewährleistet. Menschen mit niedrigem Einkommen haben ungenügend Zugang zu gesunden Lebensmitteln, während die ProduzentInnen keine fairen Preise erzielen und die nicht-industriellen Wertschöpfungsketten dazwischen kaum rentabel sind. Die PolitikerInnen mischen sich lieber nicht ein: Ob man sich für die ProduzentInnen stark macht oder die KonsumentInnen einsetzt, man scheint nur verlieren zu können.
Auf der anderen Seite haben wir die Agenda 2030 für die nachhaltigen Entwicklungsziele und das Pariser Klimaziel. Diese Ziele können nur mit einem nachhaltigen Ernährungssystem erreicht werden. Wobei „nachhaltig“ drei Dimensionen umfasst: eine ökonomische, eine ökologische und eine soziale. Anders ausgedrückt: In einem nachhaltigen Ernährungssystem wird die Umwelt respektiert, UNDROP (die Rechte von Bauern und anderen Menschen, die in ländlichen Gebieten arbeiten) durchgesetzt und sichergestellt, dass alle Zugang zu genügend und gesunder Ernährung haben.
Lange Zeit wurden Menschen, die eine Umstellung der Ernährungssysteme forderten und selber die Initiative ergriffen, als Utopisten betrachtet. „All diese Projekte, von denen man immer spricht: Sie sind weder rentabel noch gibt es viele davon. Machen sie 1% unserer Nahrung aus? Sie schirmen vor allem die Realität ab“, fasste Reto Cadotsch, einer der Initiatoren des partizipativen Supermarkts La Fève in Les Vergers de Meyrin, vor nicht allzu langer Zeit, zusammen. Für ihn ist klar: die gesunde Ernährung darf nicht dem freien Markt überlassen werden. Es braucht einen gesellschaftlichen Entscheid, um das System zu ändern. Sowohl beim Konsum als auch bei der Finanzierung.
«Nahrungsmittelhilfe muss ein Instrument bleiben, um in einer Notsituation für einen begrenzten Zeitraum zu helfen»
Neuer Artikel 38A
GEMEINSAM kann die Verwirklichung des Rechts auf gesunde Ernährung erreicht werden. Das Genfer Parlament will, dass das Recht auf angemessene Ernährung in der Verfassung verankert wird. Das Volk wird am 18. Juni 2023 über diesen neuen Artikel 38A* abstimmen.
Um Artikel 38A dann umzusetzen, braucht es ein Gesetz über das Recht auf Nahrung und eine öffentliche Ernährungspolitik, die von den verschiedenen Departementen mitgetragen wird. Das „Manifest für das Recht auf Nahrung „** ( ↵) könnte als Referenz und Fahrplan für die Umsetzung eines solchen Gesetzes dienen. Ziel ist es, das Recht auf angemessene Ernährung für alle zu gewährleisten und dabei die Würde jedes Einzelnen zu achten. Warum ist das so schwierig? Weil Hunger ein Geschäft ist.
Spenden sind, sofern sie an eine anerkannte gemeinnützige und nicht gewinnorientierte Organisation gehen, von der Steuer absetzbar. In den meisten Kantonen, so auch in Genf, bis zum Gegenwert von 20% des Gewinns und vorausgesetzt, es entsteht kein Verlust. Warenspenden werden zum Verkaufspreis berechnet. Also so, als würden sie aus dem Regal genommen. Das vermeidet Food-Waste, was erfreulich ist, aber man ist trotzdem fast versucht, herauszufinden, wie viel Steuereinnahmen dadurch entfallen, Und vielleicht würde man sich dann die Frage stellen, ob es für den Staat nicht besser wäre, die Steuern einzunehmen und den Zugang zu angemessener Nahrung unabhängig zu organisieren? Was Unternehmen nicht davon abhalten würde, philanthropisch zu sein!
Mehr als Hilfe, ein Recht!
Es muss ein Unterschied zwischen Nahrungsmittelhilfe und der Verwirklichung des Grundrechts auf Nahrung gemacht werden. Wie die COVID-19-Pandemie gezeigt hat, hängt die Nahrungsmittelhilfe zu einem grossen Teil von Spenden ab. Doch Philanthropie, so wichtig und lobenswert sie auch sein mag, beruht auf individueller Bereitschaft und Grosszügigkeit. Das ist für den Notfall gut, aber keine permanente Lösung. Und es war nicht nur während der Pandemie so, dass Menschen nicht genug zu essen hatten, ganz im Gegenteil: „Partage“, die Genfer Tafel, verteilt aktuell jede Woche 4’900 Taschen voller Lebensmittel. Das entspricht einem Anstieg von über 45% allein innerhalb des letzten Jahres (Zahlen von März 23 vs. 22 ↵).
In Deutschland muss jeder dritte Mensch aufgrund der aktuellen Inflation auf seine Ersparnisse zurückgreifen. Die Preise für Lebensmittel sind um 20 % gestiegen und damit doppelt so hoch wie die allgemeine Inflation. Aktuell profitieren zwei Millionen Menschen von den „Tafeln“ (↵)
Auch in Frankreich hat die Zahl der Menschen, die Lebensmittelhilfe erhalten, pandemieunabhängig zugenommen. In zehn Jahren hat sich die Anzahl verdreifacht und heute sind 2,4 Mio. Menschen von Lebensmittelhilfe abhängig (↵). „Working Poor machen mittlerweile 17% der EmpfängerInnen von Lebensmittelverteilungen aus. Auch Studierende suchen zunehmend Unterstützung bei den Food Banks. Ebenso wie Pensionierte. Sie alle bekommen den Preisanstieg in den Geschäften für Grundnahrungsmittel mit voller Wucht zu spüren“, informiert RFI.
Menschen in prekären Situationen müssen sich wieder aufrichten können, um in ein selbstbestimmtes und würdiges Leben zurückzufinden. Nur so ist eine positive Zukunftsperspektive möglich. Wenn sie „nur“ Nahrungsmittelhilfe erhalten, laufen sie Gefahr, am Rande oder sogar ausserhalb der Gesellschaft zu bleiben. Aus diesem Grund muss die Nahrungsmittelhilfe ein Instrument bleiben, um in einer Notsituation für einen begrenzten Zeitraum zu helfen.
Um das Recht auf gesunde Ernährung zu verwirklichen, bedarf es jedoch eines Paradigmenwechsels. Und wieder einmal ist die gesamte Lebensmittelkette betroffen, vom Feld bis zum Teller.
Artikel 38A wird dazu beitragen, dieses Grundrecht zu verwirklichen.
* Art. 38A Recht auf Nahrung. Das Recht auf Nahrung ist gewährleistet. Jeder Mensch hat das Recht auf angemessene Ernährung und darauf, vor Hunger geschützt zu sein.
** Dieses Manifest wurde von rund 60 Personen während eines Demopraxis-Forums erarbeitet und verabschiedet. Das Forum war von der MATER Fondazione in Zusammenarbeit mit FIAN Schweiz, Global Shapers Community, der Fondazione Pistoletto und dem Social Gastronomy Movement organisiert worden.
Quellen und Links
Agenda 2030→
Accord de Paris →
Article 38A de la constitution de Genève (Objet 5 pour les votations cantonales du 18 juin 23) →
Manifeste pour le droit à l’alimentation →
Reformiert.info: Armut in der Schweiz (2023) →
Sarina Debora Cadusch und Florence Reisgies: Die Tafeln als Form der Lebensmittelhilfe in der Schweiz (2022) →
RFI: le nombre de personnes bénéficiant de l’aide alimentaire (2023) →
Service public français: Mieux manger pour tous, un plan d’aide alimentaire pour les personnes précaires (2023) →
Analyse & Kritik: Die hochwertigsten Lebensmittel sollten auch die Preiswertesten sein (2023) →