Landwirtschaft dient der Ernährung der Menschen
Interview mit Reto Cadotsch,
Landwirt in Genf und Gründer von Jardins de Cocagne, l’Affaire Tournerêve und Cueillettes de Landecy.
Interview geführt von Melisande Rebillet und Harmony Bourrachot,
zuerst erschienen in der Estafette de TourneRêve No2
Städtische Landwirtschaft
Die Hauptaufgabe der Landwirtschaft ist, Nahrungsmittel zu produzieren.
In ländlichen Gegenden sind die Landwirtschaftsflächen durch das Raumplanungsgesetz definiert und fallen unter das Landwirtschaftsgesetz (1). Die Lebensmittelproduktion auf diesen Flächen wird staatlich unterstützt. Für den Lebensmittelanbau auf städtischem Gebiet gilt dieses Gesetz nicht. Ein Bauer in der Stadt hat demnach nicht die gleichen Rechte wie sein Kollege in der Landwitschaftszone ausserhalb. Vom geografischen Standpunkt aus besteht also ein Unterschied zwischen Landwirtschaft in der Stadt und Landwirtschaft ausserhalb.
Spricht man aber von der Landwirtschaft als Einheit, durch die die Menschheit ernährt werden soll (was ja ihr Zweck sein sollte), gibt es keinen Unterschied zwischen der Landwirtschaft in der Stadt und auf dem Land.
Viel interessanter ist es, die Landwirtschaft anders zu differenzieren, zum Beispiel zwischen industrieller und bäuerlicher Landwirtschaft.
Hängt die Landwirtschaft von industriellen Zusätzen ab (Dünger, Pflanzenschutzmitteln, Saatgut) und von Grossverteilern, die ihre Produktion zum Weltmarktpreis kaufen, oder produziert der Betrieb Industrie-unabhängig sein eigenes Saatgut und seine eigenen Dünger für Kunden in der Umgebung und zu Preisen, die direkt verhandelt werden? Wir können auch unterscheiden zwischen den verschiedenen Produktionsarten wie Biokultur, integrierter Produktion usw.
Diese verschiedenen Produktionssysteme gibt es in der Stadt ebenso wie auf dem Land. Die Bezeichnung „urban“ ändert nichts und sagt nicht mehr aus. Transparenter und konsumentenfreundlicher ist es, die Lebensmittelproduktion durch ihr System und die Bedingungen, unter denen sie stattfindet, zu definieren.
Eine Kette, auch eine kurze, besteht aus verschiedenen Teilen, die zusammen ein Ganzes bilden. Auch die Lebensmittelkette: Die einzelnen Glieder sind verschiedene Bauernhöfe und verschiedene verarbeitende Gewerbe, teils auf dem Land, teils eventuell auch in der Stadt. Es macht durchaus Sinn, dass städtische Betriebe die Konsumenten mit den weiter ausserhalb gelegenen Höfen verlinken und so die Lebensmittelkette tatsächlich verkürzen. Das bedeutet, die städtische Landwirtschaft ist Teil der Landwirtschaft als Ganzes, und viel sinnvoller als die geografische ist die Unterscheidung zwischen Produktionssystemen, Zielen und Philosophie.
Urban Farming
Der Ausdruck „urban farming“ ist modern. Um die Jahrtausendwende erschienen die ersten essbaren Pflanzen wie Broccoli und Rosmarin in städtischen Blumenbeeten. Seither werden immer grössere Flächen zu Gemüse- und Obstgärten, die Stadtgärtner sind Bauern und die Konsumenten sind begeistert.
Diese Initiativen sind sehr begrüssenswert und oft rechtfertigt schon allein ihre Grösse, dass man sie Landwirtschaftsbetriebe nennt. Wieso wird diese städtische Landwirtschaft abseits der Landwirtschaft betrieben? Konsequenterweise wäre diese städtische Landwirtschaft Teil der „ganzen“ Landwirtschaft. Meistens konzentriert sie sich auf ihre direkte, urbane Umgebung: Mitbürger werden zum Gärtnern angeregt, es gibt Bienenstöcke für Bildungszwecke, die Landwirtschaft im öffentlichen städtischen Raum ist ein Schaufenster für die Vermarktung von regionalen Produkten. Dabei könnte sie Teil der Lebensmittelkette sein.
Die Landwirtschaft geht uns alle an
Die Debatte wo, wie, durch wen und unter welchen Bedingungen unsere Lebensmittel produziert werden, ist eine der Wichtigsten überhaupt. Die Stadtplaner sollten daran teilnehmen und beim Bau neuer Quartiere die Frage stellen, wo sich die Flächen befinden, die die zukünftigen Bewohner ernähren. In Genf, Brasilien, Italien oder Indien? Wo werden diese Lebensmittel verarbeitet und verpackt? Darf man – in einer Demokratie – diese Entscheidungen der Industrie und den Grossverteilern überlassen? Meine Antwort ist NEIN.
Die Landwirtschaft ist nicht nur einfach Sache der Bauern, ihre Hauptrolle ist die Produktion unserer Lebensmittel und die Sorge um lebendige Böden. Das geht uns alle an, umso mehr als dass die Organisation unserer Ernährung in ihrer Gesamtheit für mehr als die Hälfte der Treibhausgasemissionen verantwortlich ist. Das macht einiges mehr aus als die Emissionen durch schlecht isolierte Gebäude und die Totalität der Transporte. Die Ursache liegt hautsächlich in den Industriellen Produktionsmethoden, der Verarbeitungs- und Verteilerindustrie und den immer länger werdenden Beschaffungswegen.
Die Frage der Ernährung muss – wegen ihren Auswirkungen auf Ökologie und Volksgesundheit– zu einem eigenen Sektor in der Stadtplanung und in die Agrarpolitische Debatte integriert werden.
Die urbane Landwirtschaft als Teil der Lebensmittelkette zu berücksichtigen hätte den Vorteil, dass wir ihren Sinn und Zweck erweitern könnten. Statt lediglich Flächen zu belegen, könnte diese kleine grüne Lunge zwischen den Häusern die Verbindung mit der Landwirtschaft sein, die effektiv die Nahrung der Städter produziert.
Die städtische Landwirtschaft könnte die kurzen Kreisläufe fördern und Lebensmittel dezentral, zum Beispiel in Wohnblöcken, Quartieren etc. lagern. Wieso verlangt man nicht, dass eine neue Molkerei, eine Bäckerei, eine Metzgerei gebaut wird jedes Mal, wenn eine neue Schule geplant ist? In jedem Quartier könnten/sollten für regionale Produzenten erschwingliche Verkaufspunkte zur Verfügung stehen. Wieso unterstützt man nicht Initiativen von regionalen Produzenten die bereit wären, ihre Produkte selber zu Teigwaren, Getreideflocken, Jus, Konserven etc. zu verarbeiten? Für jedes Quartier zu vernünftigen Preisen und ohne Grossverteiler und ohne Risiken des Weltmarktes. Jedes neue Quartier könnte, rund um die Ernährung, Dorfzentrum-Charakter haben statt Megaeinkaufszentren an den Stadtgrenzen.
Die Vision wird umgesetzt
Im neuen Öko-Quartier des Vergers in Meyrin (2) versuchen wir eine Politik, die in diese Richtung geht, zu realisieren. Als erstes haben wir eine Gruppe gegründet, die alle möglichen Aktionen des Quartiers bezüglich der Ernährung koordiniert, le COTA. Daraus entstanden verschiedene Kooperativen zur Leitung sämtlicher Aussenräume zwischen den Wohnblöcken mit Obstgärten, partizipativen Gemüsegärten, Kompost, Wegunterhalt etc.
Ein bäuerlicher Quartierladen, der wie eine Kooperative organisiert ist, wird von Bewohnern geleitet und von Bauern, die ausserhalb des Quartiers für den Laden produzieren. Wir haben auch Raum reserviert für einen Bäcker, einen Metzger und einen Käser. Es ist unser Ziel, uns mit allen Beteiligten der verschiedenen Branchen, unabhängig von den Grossverteilern, an den gleichen Tisch zu setzen und ihr Funktionieren mit den Bewohnern des Quartiers, die diese Lebensmittel essen, zu diskutieren. Zusammen mit den Produzenten von Milch, Fleisch, Früchten, Getreide und Öl, den Gemüseproduzenten, dem Bäcker, dem Metzger, dem Milchmann und dem selbstgeleiteten Supermarkt wollen und können wir die Ernährungsstrategie für unser Quartier selber wählen, unabhängig von einer industriebestimmten Wirtschaft.
Dieses ganze Vorgehen wurde ermöglicht Dank des politischen Willens der Gemeinde Meyrin, die künftigen Bewohner in die Leitung ihres Quartiers einzubeziehen und fast die Hälfte der Quartierfläche verschiedenen Kooperativen zur Verfügung zu stellen. Momentan sind es noch die COTA-Mitglieder, die die vielen Quartierinitiativen tragen, bei denen es um mehr geht als nur um Essen. So ist denn auch der Übername des Vereins „Mehr als Essen“.
Vorbilder und Beispiele
In seiner Publikation „Nach Hause kommen – Nachbarschaften als Commons“ (3) hat die Gruppe Neustart Schweiz ein Stadtmodell von 500–800 Einwohnern vorgestellt, das seine Nahrung direkt auf einem Hof von 80ha ausserhalb der Stadt produziert.
Die grosse Schwierigkeit, ein solches Modell umzusetzen ist, Bauernhöfe zu finden, die grössen- und organisationsmässig für eine Produktion geeignet sind, die zu den Bedürfnissen des Quartiers passt. Sie müssen fähig sein, mit den Bewohnern in eine Beziehung zu treten, die weiter geht als der einfache Kauf und Verkauf der Produkte. Die Mehrheit der Bauernhöfe ist heute zu gross und zu spezialisiert um so zu funktionieren: Seit den 1950er Jahren fördert die Politik das Modell einer industriellen Landwirtschaft, und heute ist sie an diese Industrie gebunden. Nur die Unterstützung und eine sehr nahe Zusammenarbeit mit den Bürgern kann sie von dieser technischen und finanziellen Abhängigkeit lösen. Das heisst, es liegt nicht an der Industrie und den Grossverteilern, sondern an den Produzenten und Konsumenten: Sie haben die Macht, ihre Ernährungssouveränität zu erlangen, wenn sie wirklich zusammenarbeiten. Das zeigen die verschiedenen vertragslandwirtschaftlichen Projekte in Genf.
Da gibt es zum Beispiel die Cueillettes von Landecy. Hier kultiviert ein Gärtner auf 1,5ha etwa je 100m2 Früchte und Gemüse für jede der 70 Mitgliederfamilien. Diese kommen ihre Salate, Gemüse, Beeren usw. selbst pflücken, wann sie Zeit haben. Was gepflückt werden kann und wieviel, steht auf dem Schwarzen Brett im Garten und auch auf der Website Cueillettes.org (4). Die Mitglieder bezahlen je CHF 810.– pro Jahr. Das ist weniger, als ein Parkplatz in der Stadt kostet und deckt das Salär des Gärtners und die Kosten der Produktionsflächen.
Es würde keine 3% der Landwirtschaftlichen Nutzflächen in Genf brauchen (5), um 200ha Gemüsegärten im Stil der Cueillettes de Landecy für je etwa 100 Haushalte zu starten und so 10% der Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, ihre direkte Verbindung zwischen Acker und Teller herzustellen. Eine regelrechte kulturelle Kehrtwende.
Ein grosses Hindernis auf dem Weg zur Realisierung dieses Traums ist der Zugang zu Land. Es ist schwierig für junge Leute, nach ihrer Ausbildung einen Landbesitzer zu finden, der ihnen ein Stück Land verpachtet, auf dem sie als Gärtner oder Landwirt tätig werden können. Aber mit dem Wohlwollen der Politischen Verantwortlichen und der Unterstützung der Städteplaner wäre es sicher möglich, Besitzer zu überzeugen, Landwirtschaftsflächen für Projekte zur Verfügung zu stellen, die die Lebensmittel produzieren, die die Quartierbewohner möchten.
Zusammengefasst
Die städtische Landwirtschaft kann ein sehr interessantes Glied in der Lebensmittelkette sein, aber nur, wenn sie sich für die Landwirtschaft in ihrer Globalität interessiert. Um den Namen Landwirtschaft tragen zu können, muss urban farming mehr tun als durch ein Fenster eine (vorgegaukelte) heile Landwirtschaft zu zeigen oder ein paar Gärten zwischen den Wohnblöcken zu gestalten. Es muss an der Wahl der Ernährungssysteme teilnehmen, die Schnittstellen zwischen der Landwirtschaft und der Architektur identifizieren und die Landwirtschaft im Dienst der Architektur und die Architektur im Dienst der Landwirtschaft fördern.