Der „raffinierte“ Machtpoker mit unserer Gesundheit
Nach einem Werbespot über einen x-ten Ernährungsgipfel, in dem die „neuen Trends“ vorgestellt wurden, die es zu verfolgen gilt, d. h. Sport- und Gesundheitsprodukte wie Proteinriegel oder Nahrungsergänzungsmittel gegen Hautalterung, haben wir uns gefragt: Was ist mit der Natur? Ist sie nicht die erste, die uns umfassende Lösungen für unser Wohlbefinden anbietet? Wer sagt uns, was gut für uns ist? Wer hat die Macht über unsere Ernährung?
Ernährung im 21. Jahrhundert: ein grosses Geschäft
Die letzten 60 Jahre waren weltweit geprägt von einem explosionsartigen Anstieg des Angebots an ultrahochverarbeiteten Lebensmitteln aus der Agroindustrie. Die Expansion industrieller Lebensmittelsysteme, einschliesslich der Globalisierung von Lebensmitteln, schamloser Marketingstrategien und Machtkonzentration, verdrängt immer mehr gesunde, frische, wenig oder gar nicht verarbeitete Lebensmittel. Dieser Trend begann in den Ländern des globalen Nordens und trifft heute die schwächsten Länder mit den unfairsten Praktiken. In einigen Ländern liegt der Konsum der ultrahochverarbeiteten Produkte heute bei 50%, in Frankreich sind es 34% der verbrauchten Kalorien.
Die neueste Untersuchung von Public Eye zeigt, dass Nestlé Babynahrung in Ländern mit niedrigem Einkommen grosse Mengen Zucker zusetzt, während in der Schweiz und in den wichtigsten europäischen Märkten dieselben Produkte, die unter einem anderen Namen verkauft werden, ohne Zuckerzusatz sind. Eine nicht zu rechtfertigende Doppelmoral. Wie kann es sein, dass solche Praktiken in einigen Ländern fortgesetzt werden, während sie in anderen gesetzlich verboten sind? Heute besteht ein weltweiter Konsens über die Gefahren des Zuckerkonsums. Dieser Konsens wird von der WHO unterstützt. Im frühen Kindesalter ist der hohe Zuckerkonsum besonders gefährlich und dies ist allen grossen Unternehmen der Lebensmittelindustrie bekannt. Dennoch gewinnt Nestlé durch irreführendes Marketing, bezahlte InfluencerInnen oder Stars und unqualifizierten „Gesundheitsbotschaften“, die sogar von MedizinerInnen verbreitet werden, weltweit immer mehr Marktanteile.
Auch in der EU kämpfen die Lebensmittelriesen darum, ihren Anteil am Kuchen zu behalten, wie man derzeit beim Thema „Nutriscore“ sehen kann. Aufgrund der steigenden Anforderungen an die Standards werden immer mehr Produkte mit dem Label D oder E versehen. Kein Wunder, dass einige Unternehmen wie Migros oder Bjorg ankündigen, sich aus dem Nutriscore zurückzuziehen. Lobbyarbeit wie ILSI, die grösste der Agrarindustrie, übt ebenfalls Druck auf EU-Parlamentarier aus, um ihre Interessen in Bezug auf Nutriscore und viele andere Themen zu vertreten.
Prozesse, die uns süchtig machen … oder sogar krank.
Und je jünger wir davon betroffen sind, desto schwieriger wird es, darauf zu verzichten. Beispielsweise entwickelt Zucker eine Art Abhängigkeit und hat psychoaktive Effekte, wie das Verschaffen von Vergnügen oder das Lindern von Unwohlsein. Wir sind nicht alle gleichermassen anfällig für seine Auswirkungen, das hängt von unserer Erziehung, unseren kulturbedingten Essgewohnheiten und den Anreizen zum Konsum ab. Kinder sind jedoch besonders anfällig, da die Ernährungsgewohnheiten zwischen 0 und 3 Jahren geprägt werden. Wir werden mit der Veranlagung geboren, Süsses zu mögen, und die beruhigende Wirkung eines gesüssten Babyschoppens, die vor allem auf die Produktion endogener Opioide im Gehirn zurückzuführen ist, haben wir schon alle beobachtet. Durch die Zugabe von Zucker in Babyprodukten und anderen Produkten, wie z. B. Erbsenkonserven, stellen die Lebensmittel- und Getränkeindustrieunternehmen sicher, dass die VerbraucherInnen den Geschmack schätzen und dadurch mehr verkauft werden kann, vor allem an Kinder, die KäuferInnen der Zukunft sind.
Es ist auch erwiesen, dass Zucker und alle raffinierten weissen Pulver unser Hormonsystem durcheinander bringen, so dass wir zunehmend das entwickeln, was Ärzte als „Insulinresistenz“ (Diabetes Typ 2 oder Prädiabetes) bezeichnen, was nichts anderes ist, als eine Sättigung der Insulinproduktion: eine Überproduktion von Insulin aufgrund einer kohlenhydrathaltigen Ernährung (Zucker ist ein Kohlenhydrat). Der Verzehr von raffiniertem Pulver bringt ein weiteres wichtiges Hormon aus dem Gleichgewicht: Leptin, das für das Sättigungsgefühl verantwortlich ist. Ein erhöhter Zuckerkonsum und ein erhöhtes Hungergefühl sind also miteinander verbunden. Nichts Neues, werden Sie sagen, aber in Verbindung mit dem Geschäft, das dahinter steckt, bringt uns das zum Nachdenken. Wollen wir weiterhin ein solch perfides System aufrechterhalten, das uns krank macht, hungern lässt und uns dazu bringt, noch mehr zu konsumieren?
Was ist mit dem Lebendigen?
Ernährung: Die Essenz des Lebens, so lautete der Titel einer Ausstellung im Alimentarium in Vevey, der Nestlé-Stiftung, die ohne Scham über den Ursprung unserer Nahrungsmittel sprach, über den Garten Eden, in dem alles blühte, was wir zum Leben brauchen, und was die Natur uns im Überfluss schenkt. Denn das ist der erste Ratschlag, der in der Ernährungswissenschaft gegeben wird und den schon Hippokrates empfahl: „Lass deine Ernährung deine erste Medizin sein“. Das Heilmittel für eine gute Gesundheit liegt in der Natur und die Wiederherstellung des Gleichgewichts auf dem Teller erfolgt durch Wahre (lebendige), abwechslungsreiche (wenn möglich ohne synthetische Hilfsmittel hergestellte, lokale und saisonale) und pflanzliche Produkte.
Geht man vom Garten Eden aus, von Pflanzen wie dem Getreide, so ist alles was hoch verarbeitet wird, denaturiert und das Endprodukt hat absolut nichts mehr mit der ursprünglichen Weizenähre zu tun. Es wird dabei raffiniert (alle Ballaststoffe verschwinden, was unserer berühmten Darmmikrobiota fehlt), manchmal hoch erhitzt (weitere Nährstoffverluste), zerlegt (was heute als „Cracking“ bezeichnet wird, bei dem alle Bestandteile des Nahrungsmittels isoliert werden, um es auf andere Weise wieder zusammen zu setzen), mit Geschmacksverstärkern, Konservierungsmitteln und anderen Zusatzstoffen bestreut, um jahrelang in einer Plastikverpackung zu überleben: Kurz gesagt, es ist zwar unvergänglich geworden und schmeckt manchmal gut, aber ernährungsphysiologisch ist es quasi „tot“.
Schlusswort
Freuen Sie sich, die Früchte des Sommers sind da und laden uns ein, uns wieder den echten Produkten, den ganzen Pflanzen aus der Region und der Saison zuzuwenden. Nehmen Sie sich die Zeit, ein paar Erdbeeren aus der Region zu probieren und entdecken Sie den Geschmack des Wahren. Und auch wenn es Sie etwas kostet, Ihr Darm wird es Ihnen danken, Sie werden Ihr Wohlbefinden steigern und allmählich die Macht über Ihre Ernährung zurückgewinnen!
Anm.: Wir haben uns in diesem Artikel bewusst für das Beispiel des weissen Zuckers (Saccharose) entschieden, um auf den letzten Bericht von Public Eye zu verweisen, aber die Strategie ist bei anderen Ersatzstoffen, die von der Industrie im Allgemeinen verwendet werden, die gleiche: Geschmacksverstärker (Salz, Glutamat…), die Mischung aus Fett und Zucker, die das Ganze appetitlich und unwiderstehlich macht, Nikotin in Vaporetten… immer das gleiche Geschäft dahinter, die gleichen Marketingstrategien und das Geld in den Händen derjenigen, die beschlossen haben, die Macht über unsere Gesundheit zu übernehmen.
Quellen
Nyeleni – März 2024 – Newsletter (EN)
MDPI – Mai 2021 – A Sustainable and Global Health Perspective of the Dietary Pattern of French Population during the 1998–2015 Period from INCA Surveys
France Inter – 14.05.2024 – Podcast „Ernährung: Unsere Gesundheit wird von der Agrarindustrie gefährdet“ (FR)
RTS – 21.05.2024 – Migros entscheidet sich auf Nutriscore zu verzichten, da es als zu teuer gilt (FR)
Novethic – 15.11.2023 – Bjorg nimmt das Nutriscore aus seinen Produkten heraus (FR)
RTS – 11.05.2024 – Der neue Nutriscore verändert die Bewertung bestimmter Lebensmittel (FR)
Public Eye – Mai 2024 – Nestlé-Studie
Links zum Vertiefen
The conversation – 13.06.2023 – Vier Wege zu einer gesundheits- und umweltfreundlichen Ernährungssouveränität (FR)
Buch von Michael Pollan – 64 rules for eating right
Foodnavigator – 29.04.2024 – Dangerous saccharin