Kleine Ursache – grosse Wirkung
Autor: Benedikt Härlin.
Der Artikel erschien zuerst in Kultur und Politik 3/23. Mit der freundlicher Erlaubnis des Autors veröffentlichen wir ihn auf dieser Webseite.
Einleitung
Das Hinzufügen, Entfernen oder Vertauschen einzelner Basenpaare im Erbgut kann einen gewaltigen Unterschied für das Funktionieren einer Zelle und die Eigenschaften eines ganzen Organismus machen. Es ist ein wenig wie Johann Sebastian Bachs Definition von gekonntem Klavierspiel: Man muss nur zur richtigen Zeit die richtige Taste drücken. So einfach ist das und doch auch so schwer. Darin liegt der Reiz der Gentechnik, aber auch ihr Risiko.
Die EU-Kommission will, dass Pflanzen, die an bis zu zwanzig Stellen ihres Erbguts gentechnisch verändert wurden, wie herkömmlich gezüchtete Pflanzen zu behandeln sein sollen. An diesen zwanzig Stellen dürften beliebig viele Basenpaare (Nukleotide) zerstört oder in ihrer Reihenfolge umgekehrt werden, bis zu 20 Basenpaare verändert oder ersetzt werden, beliebig lange benachbarte DNA-Sequenzen durch verwandte Sequenzen ersetzt werden und jede andere Veränderung von beliebiger Länge vorgenommen werden, die bereits in irgendeiner mit der Pflanze direkt oder über Zwischenschritte kreuzbaren Pflanze vorkommt.
Für diese neue Gentechnik, die (zunächst nur bei Pflanzen) nicht mehr als Gentechnik behandelt werden soll, hat die Kommission den Begriff „neue genomische Techniken“ eingeführt. Besonders die als „Genschere“ bezeichnete CRISPR-Cas Technologie, die an genau definierbaren Stellen des Genoms ein Doppelbruch der DNA erzeugt. Bei ihrer zelleigenen Reparatur kann die DNA sodann gezielt verändert werden. Einzelne oder mehrere Basenpaare können umgeschrieben oder entfernt, längere DNA-Abschnitte stillgelegt oder neu an der Bruchstelle eingesetzt werden. Dafür wird zunächst mit klassischen Methoden der Gentechnik die bakterielle DNA des CRISPR-Cas Enzyms samt RNA-Suchmechanismus in die Zelle eingebracht und anschliessend möglichst wieder entfernt.
Eine neue Geschichte über die Gentechnik
Es handle sich bei dieser „Genom-Editierung“, so die zentrale Begründung für die vorgeschlagene Neubewertung, lediglich um „gezielte Mutationen“, die auch auf „natürliche Art“ durch herkömmliche Züchtung entstehen könnten. Damit verbundene Risiken für Umwelt und menschliche Gesundheit seien deshalb grundsätzlich nicht höher als die Produkte konventioneller Züchtung. Zudem seien sie von diesen nicht einmal zuverlässig unterscheidbar. Im Unterschied zu „transgenen“ Organismen, die „artfremde“ DNA aus einem anderen Organismus enthalten, würden bei der „Cisgenese“ nur exakte Kopien von genetischem Material aus verwandten Pflanzen einfügt, das bereits im „Genpool der Züchter“ dieser Pflanzen irgendwo auf der Welt verfügbar ist. Falls die DNA-Kopie nicht exakt die gleiche ist, sondern schon ein wenig „umarrangiert“ wurde, etwa a verschiedenen DNA-Abschnitten, die im „Genpool der Züchter“ vorkommen, handle es sich um „Intragenese“. Auch sie könne behandelt werden, als handle es sich dabei um herkömmliche Züchtung.
Das ist ein neues Dogma, eine alternative Wahrheit darüber, was Gentechnik bedeutet und wie sie funktioniert. Seit CRISPR/Cas die erlahmte Phantasie der Gentechnik-Branche neu beflügelt, wird diese Geschichte massiv verbreitet: Das sei gar keine richtige Gentechnik, sondern fast natürliche Mutagenese. Dann stellte der Europäische Gerichtshof im Jahre 2018 in einem Grundsatzurteil fest, dass sämtliche neuen Gentechnikmethoden unter das herrschende Gentechnikrecht der EU fallen. Mangels praktischer Erfahrung und dank neuer technischer Möglichkeiten könnten die neuen Gentechnikmethoden sogar riskanter sein als bisherige Methoden. Seither arbeitet eine millionenschwere Industrielobby und eine eher bescheidene Abteilung der Generaldirektion Gesundheit bei der EU-Kommission daran, das Gesetz zu ändern, auf dessen Grundlage der EuGH urteilte: Wer das Urteil nicht ändern kann, muss das Gesetz umschreiben.
Wer nach wissenschaftlicher Literatur über Cisgenese, Intragenese oder den „breeders gene pool“ sucht, findet diese Begriffe ausschliesslich im Zusammenhang mit der angeblich nicht mehr zeitgemässen Gentechnik-Zulassungspraxis in Europa. Das Narrativ von riskanten Transgenen und ungefährlichen Cis- und Intragenen, von groben gentechnischen Manipulationen der Vergangenheit und präzisen Mutationen der Zukunft bietet Menschen in Politik, Ernährungs- und Landwirtschaftsunternehmen eine Möglichkeit an, ihren Einsatz für die Deregulierung der Gentechnik nicht als politischen Sinneswandel, sondern als neuere wissenschaftliche Erkenntnis zu präsentieren. Hier haben Menschen, die die Anwendung von Gentechnik in der Züchtung seit Langem für ungefährlich halten und die bisherige Gentechnikgesetzgebung der EU für völlig überzogen, sich ein Märchen für Politiker und die breite Öffentlichkeit ausgedacht, das einen zügigen Ausstieg aus dem ganzen „Humbug“ erlaubt. „Genom-editierte“ Pflanzen sind dafür der Einstieg. Die Europäische Lebensmittelbehörde EFSA arbeitet bereits an der Neubewertung gentechnischer Veränderungen bei Mikroorganismen.
«Die medizinische Literatur zu unbeabsichtigten und unvorhergesehenen Folgen beim Einsatz von CRISPR-Cas ist erdrückend. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Listen bei Pflanzen kürzer wären – es wird hier aber nicht danach gesucht.»
Darf’s etwas komplexer sein?
Allerdings widerspricht dieses Narrativ von den guten und den fremden Genen und von dem, was natürlich ist und was nicht, vielen neueren Einsichten der Molekularbiologie. Dort setzt sich nämlich die Erkenntnis durch, dass Zellen und Organismen einzelne DNA-Abschnitte nach Regeln ablesen und kombinieren, die nicht einfach in die DNA selbst „einprogrammiert“ sind.
Die Erkenntnis des Human Genome Project vor 20 Jahren, dass der menschliche Körper über 200.000 verschiedene Eiweisse mit nur ca. 25.000 sogenannten Genen, sprich ablesbaren DNA-Abschnitten, erzeugt, hat unser Bild vom sogenannten Bauplan des Lebens grundlegend verändert. Seither hat die Epigenetik eine Vielzahl von Entdeckungen gemacht, die das naive Bild der DNA als Programm-Code relativieren. Dazu gehören die vielfältigen Funktionen von RNA: Kettenmoleküle ähnlich der DNA, meist einsträngig und sich viel komplexer formend; ebenfalls jene 99 Prozent der DNA, die nicht den Bauplan von Eiweissen codieren und deshalb ursprünglich einmal als „junk DNA“ abgetan wurden. Es ist faszinierend: Je weiter die Wissenschaft in diese Wissensgebiete vordringt, desto komplexer wird das Bild. Dafür gibt gerade die CRISPR-Cas-Technologie, die das gezielte „Ausschalten“ einzelner Gene ermöglicht, der Forschung ein enorm mächtiges neues Instrument an die Hand.
Grob vereinfacht könnte man die DNA vielleicht mit einer Art festen Verdrahtung vergleichen, derer sich eine bisher nur sehr unvollständig verstandene „Software“ der Zelle in unterschiedlichen Zellen und Entwicklungsstadien und bei verschiedenen Umweltbedingungen bedient. In Unkenntnis und unter Umgehung der natürlichen Regeln und Kontrollmechanismen der Vererbung direkt in die DNA einzugreifen, kann unerwartete Risiken und Nebenwirkungen mit sich bringen. Eine derartige Eingriffstiefe, so die bisherige Grundüberlegung der vorsorgenden Gentechnikgesetzgebung der EU wie auch der Schweiz, bedarf besonderer Vorsicht. Denn unsere Erfahrung mit derartigen Eingriffen und ihren unmittelbaren und mittelbaren, kurz- und längerfristigen Auswirkungen sind nach wie vor begrenzt.
Hier endet leider auch die Erzählung von der ungeheuren Präzision der neuen Technologie. Erst wer versteht, in welche Zusammenhänge sie oder er jeweils direkt oder indirekt eingreift, kann echte Präzision für sich in Anspruch nehmen. Wer dagegen bestenfalls Wahrscheinlichkeiten angeben kann, mit denen bestimmte, noch so präzise Veränderungen einzelner DNA-Abschnitte veränderte Eigenschaften hervorbringen, ist von echter Kausalität und verlässlicher Bewertung nicht erwünschter Möglichkeiten noch weit entfernt. Auch ein mit äusserster Präzision geführter Schlag ins Wasser bleibt ein solcher.
Künftig soll nicht mehr der tatsächliche Organismus, sondern nur noch das erfinderische Konzept dieses GVO angeschaut werden und nach Aktenlage geprüft werden.
Ungereimtheiten
Es gibt wissenschaftlich-technische Einwände gegen das Narrativ der gezielten Mutation und ihrer ungeheuren Präzision. Dazu gehört, dass CRISPR-Cas Enzyme zwar sehr genau auf eine bestimmte Abfolge von Basenpaaren angesetzt werden können, nach denen ihre RNA-„Nase“ sucht. Sie kennen eine Stelle ihrer Wahl, an der ein gezielter Doppelstrangbruch der Helix verursacht werden soll. Doch wie viele weitere gleiche oder täuschend ähnliche Sequenzen sich an anderen Stellen des Genoms finden, bleibt offen. Die medizinische Literatur zu unbeabsichtigten und unvorhergesehenen Folgen beim Einsatz von CRISPR-Cas ist erdrückend. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die Listen bei Pflanzen kürzer wären – es wird hier aber nicht danach gesucht.
Für Furore sorgte kürzlich die Beschreibung eines „Chromothripsis“ genannten Effekts von Doppelstrangbrüchen in Pflanzen, bei dem Teile des betroffenen Chromosoms abreissen, mit massiven Folgen, die jedoch nicht immer leicht erkennbar sind. Dieser Effekt war in Zellen von Säugetieren und Menschen bereits seit längerem bekannt.
Dass CRISPR-Cas auch in solchen Regionen des Genoms Brüche verursacht, die von Natur aus gegen zufällige Mutationen besonders gut geschützt sind, stellt die Behauptung stark in Frage, gezielte Mutationen seien eigentlich nur harmlose Varianten dessen, was in der Natur ständig passiert.
Nicht zuletzt ist der besondere Mechanismus von CRISPR-Cas, nicht nur eine, sondern sämtliche Fundstellen einer bestimmten DNA-Sequenz im Genom gleichzeitig zu verändern, ein Effekt, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bei natürlichen Mutationen auszuschliessen ist. Er gilt ja auch als besondere Stärke der Technik: Weizen mit seinen vier bis sechs Chromosomensätzen und entsprechend vielen Kopien einzelner Gene, seine Gluten-Produktion auszutreiben, könnte so möglich werden.
Hinzu kommt ein Ansatz, durch den George Church, ein Pionier und Enfant terrible der Gentechnik, den tasmanischen Beutelwolf oder das Mammut wieder auferstehen lassen will. Stück für Stück will er eine CRISPR-Veränderung an die nächste reihen, um die 0,4% Unterschied zwischen dem Genom des Mammuts und dem des asiatischen Elefanten zu überbrücken. Für weniger ambitionierte Pflanzenzucht-Ziele ist die systematische Aneinanderreihung einzelner „gezielter Mutationen“ nicht unbedingt eine versponnene Mammutaufgabe. Ganze am Bildschirm entworfene DNA-Sequenzen liessen sich so möglicherweise Schritt für Schritt auf einen Organismus übertragen; wenn es der EU-Kommission Freude macht, auch in Einzelschritten von jeweils 20 mal 20 Veränderungen. Weil, so schliesst man messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf.
Auch die Methode der Risikoabschätzung soll geändert werden: künftig soll nicht mehr der tatsächliche Organismus, sondern nur noch das erfinderische Konzept dieses GVO angeschaut werden. Die Hersteller teilen der Behörde die beabsichtigten Veränderungen mit und die Prüfer untersuchen nach Aktenlage innerhalb von 30 Tagen, ob diese Veränderungen ihrer Meinung nach auch mit herkömmlichen Züchtungstechniken erzeugt werden können bzw. cisgenetischer oder intragenetischer Natur sind.
Reale, auch nicht beabsichtigte Veränderungen zu beachten, ist nicht mehr vorgesehen. Das erinnert an den berühmten Betrunkenen, der nach dem verlorenen Schlüsselbund unter der Laterne sucht, weil nur dort Licht ist. Risiken und Nebenwirkungen dagegen, so lehrt uns die Erfahrung, sollten wir gerade da suchen, wo wir sie nicht erwarten.
Apropos Schlüsselbund: Die rätselhafte Zahl von maximal 20 Nukleotiden, die von nun an als „natürliche Mutation“ durchgehen sollen, stammt – so die Vermutung beteiligter Wissenschaftler – ursprünglich aus einer Untersuchung von natürlich vorkommenden genetischen Unterschieden in 80 Pflanzen der gleichen Pflanzenart (Ackerschmalwand, so etwas wie die Labormaus der Pflanzengenetiker) aus dem Jahre 2011. Damals erlaubte es die eingesetzte Testmethode zum heutigen Bedauern der Wissenschaftler nicht, längere Sequenzen ebenso zuverlässig zu erkennen. Die Zahl scheint also in erster Linie der Begrenzung der damaligen Testmethoden zu verdanken zu sein.
Auf welchen Pfad wollen wir uns begeben?
Über all dies liesse sich trefflich streiten, spotten und philosophieren. Doch wir werden möglicherweise im Laufe der kommenden Jahre noch atemberaubende Erschütterungen unserer bisherigen Vorstellungen von Genetik und Epigenetik, von DNA und Mikrobiologie erleben, die über jene der vergangenen Jahrzehnte weit hinausgehen. Denken wir nur an die revolutionären Erkenntnisse, die sich gerade über das Mikrobiom auch in der Öffentlichkeit durchsetzen oder an die Möglichkeiten, mittels sogenannter künstlicher Intelligenz in Minuten statt bisher Jahren die dreidimensionale Faltung von Eiweissen zu berechnen. Die Computer tun dies mit selbstlernenden Programmen, deren Logik auch ihre Erfinder nicht mehr nachvollziehen können. Ob uns dies eher begeistert oder beängstigt, wir sollten uns auf bahnbrechende neue Einsichten einstellen und auch auf umstürzende Anwendungsmöglichkeiten in der Landwirtschaft und Ernährung.
Dass in der Landwirtschaft fundamentale Veränderungen notwendig sind, steht angesichts der Schäden, die wir auf diesem Gebiet der Natur derzeit zufügen, ausser Frage. Eben gerade deshalb können wir uns gentechnische Idiotien wie die herbizidtoleranten Monokulturen von Bayer, Syngenta und Corteva nicht weiter leisten und auch nicht deren Fortführung mit anderen Mitteln. An erster Stelle muss der Ausstieg aus einer industriellen Landwirtschaft des letzten Jahrhunderts stehen, aus deren Überdüngung und Vergiftung, ineffizienter Überproduktion, Verschwendung und Verdrängung bäuerlicher Existenzen und Produktion von Lebensmitteln von immer geringerer Qualität. Diese agrarökologische Umgestaltung zu verpassen wäre nicht nur riskant, sondern mit Sicherheit eine tödliche Gefahr.
Die Rabulistik und Winkelzüge der Definition von Cisgenese, Intragenese und breeders gene pool widersprechen nicht nur den Anforderungen evidenzbasierter und solider Wissenschaft. Sie lenken auch von den wirklichen Herausforderungen und möglichen Gefahren und Risiken ab. Zu reden ist dabei auch über die ökologische, gesundheitliche und soziale Beherrschbarkeit und Wirkung von Technologien und Entwicklungspfaden jenseits der technischen Risiken im engeren Sinne.
Auch für die Wahrscheinlichkeit von technischen Fehlern und Missbrauch spielen die sinkenden Kosten der Sequenzierung von Genomen und ihrer digitalen Verarbeitung wie auch der CRISPR-Cas Technik eine wesentliche Rolle. In der gegenwärtigen Phase allgemeiner Goldgräberstimmung auf jede Identifizierbarkeit und Risikoabschätzung Kennzeichnung und Überwachung zu verzichten, widerspricht dem gesunden Menschenverstand. Deregulierung in Zeiten eines explodierenden technologischen Innovationsschubes mit ungewissem Ausgang ist das Gegenteil von Vorsorge und Umsicht.
«Die Deregulierung der Gentechnik geht mit der Gier nach „geistigem Eigentum“ an Saatgut und einzelnen genetischen Eigenschaften möglicherweise eine fatale Verbindung ein.»
Die Neue Saatgut-Ordnung
Wem werden die neuen, aber auch die alten technologischen Möglichkeiten künftig gehören? Die Deregulierung der Gentechnik geht mit der Gier nach „geistigem Eigentum“ an Saatgut und einzelnen genetischen Eigenschaften möglicherweise eine fatale Verbindung ein. Was immer mit Hilfe von CRISPR-Cas und ähnlichen Gentechniken entwickelt wird, fällt nach geltendem Europäischen Patentrecht nicht mehr unter das grundsätzliche Verbot der Patentierung von „im wesentlichen biologischen Verfahren zur Produktion von Pflanzen und Tieren“ (herkömmlicher Züchtung etwa) und deren Produkten. CRISPR-Cas wäre also ein Türöffner, um Saatgut bzw. einzelne Eigenschaften zu patentieren und nicht mehr „nur“ unter Sortenschutz zu stellen. Es ist nicht der einzige Weg, den die Patentanwälte von Bayer, Corteva, Syngenta & Co derzeit beschreiten, aber der einfachste.
Der zentrale Unterschied: Mit geschützten Sorten können Züchter weiter neue Sorten entwickeln, ohne dass es dafür der Zustimmung des Sorten-Inhabers bedarf. Landwirte können aus diesen Sorten eigenes Saatgut gewinnen und optimieren. Bei patentiertem Saatgut läuft ohne die Zustimmung und Lizenz des Patentinhabers dagegen nichts mehr. Das gilt, und hier kommt die Kennzeichnung und Identifizierbarkeit der GVOs ins Spiel, auch dann, wenn die patentierte Eigenschaft zufällig in Zucht- oder Pflanzmaterial einkreuzt: Sie bleibt das exklusive Eigentum des Patentinhabers.
Ausgerechnet in Zeiten, in denen durch Klimawandel und Artenverlust die Anpassung und Entwicklung neuer Sorten eine besondere Dringlichkeit bekommt, würde die „Vercrisperung“ der Züchtung einem noch kleineren und exklusiven Kreis von Unternehmen und deren Anwaltskanzleien das Feld überlassen. Den Resten von „open source“, die im Sortenrecht verankert sind, würde so der Garaus gemacht. Für jedes Zuchtunternehmen wäre die Versuchung und bald auch der Konkurrenzdruck gross, neuen Sorten eine „gezielte Mutation“ anzuhängen, um den Bauern und Bäuerinnen den Nachbau und der Konkurrenz die Nutzung des genetischen Materials zu versagen. Der gesamte Saatgut-Markt würde so in relativ kurzer Zeit einer neuen Weltordnung unterworfen. Die Folgen lassen sich heute bereits in Amerika besichtigen, wo kleine und mittelständische Zuchtunternehmen praktisch verschwunden sind. Der Erhalt und die Fortentwicklung des vielleicht wichtigsten Erbes der Menschheit würde endgültig zur exklusiven Technologie einiger weniger Saatgut-Oligarchen verkommen; den gleichen übrigens, die die Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit dieser neuen Gentechnik-Produkte mit dem Argument bekämpfen, sie seien von herkömmlich gezüchteten Varianten praktisch nicht zu unterscheiden. Wenn es um ihre Patente geht, werden sie hierfür mit Sicherheit Mittel und Wege finden.
Praktische Vorsorge
Da Züchtung und Gentechnik an Pflanzen stets an der Keimbahn ansetzen, also sich selbst vermehrende Organismen erzeugen, deren Eigenschaften sich in der Natur auf verwandte Arten auskreuzen und weiterverbreiten können, ist Vorsorge geboten. Wir sollten mögliche Risiken vorab in der Praxis untersuchen und abschätzen. Der Eingriff sollte im Notfall so weit wie möglich rückgängig gemacht werden können, die freigesetzten GVOs zu diesem Zweck eindeutig identifizierbar sein. Dies ist technisch kein Problem, wenn die Hersteller des GVOs kooperieren und wie bisher einen Test als Bestandteil der Zulassungsunterlagen einreichen.
Die weitergehende Frage ist: Wie viel Respekt haben wir sinnvollerweise vor den sich abzeichnenden neuen Manipulationsmöglichkeiten und dem längst nicht begriffenen grossen Ganzen, in das wir mit ihnen eingreifen? Und wie viel Vorsicht ist im Umgang mit der menschlichen Innovationsfähigkeit und daraus entstehenden Machtverhältnissen geboten?
Ist es wirklich sinnvoll, der Gentechnik-Zunft, die bei allem Respekt noch keinen einzigen überzeugenden Beitrag zum ökologischen Umbau und zur Nachhaltigkeit von Ernährung und Landwirtschaft vorzuweisen hat, durch weitgehende Deregulierung der bisherigen Sicherheits- und Transparenzvorschriften kurzfristige Investitionsanreize zu bieten? Sind solche Vorschuss-Lorbeeren gerechtfertigt für eine Branche, deren einziger wirtschaftlicher Erfolg in den letzten 30 Jahren in einem System von herbizidtoleranten und insektengiftigen Pflanzen besteht, das weltweit gewaltige Umwelt- und Gesundheitsschäden verursacht?
Respekt und Ehrlichkeit
Warum soll auf keinen Fall mehr draufstehen was tatsächlich drin ist? GVOs und ihre Produkte müssen weiterhin klar gekennzeichnet werden. Nicht zuletzt auch, um dem biologischen Landbau, der den Einsatz von Gentechnik ausschliesst, nicht den Todesstoss zu versetzen. Der Vorschlag der EU-Kommission bekräftigt zwar weiterhin das Verbot des Einsatzes auch der neuen Gentechnik im Ökolandbau. Er überlässt aber die Haftung dafür ausschliesslich der Biobranche und die Regelung der nur noch schwer vorstellbaren Koexistenz den Mitgliedstaaten. Und denen bindet sie dabei sogar noch eine Hand auf den Rücken: Die bisher möglichen nationalen oder regionalen Einschränkungen oder gar Verbote für den Anbau von GVOs werden für die nicht mehr rückverfolgbaren neuen GVOs ausgeschlossen!
Der Versuch, den Streit um das Thema dadurch zu beenden, dass dafür entscheidende Informationen den sichtlich interessierten Bürgerinnen und Bürgern künftig vorenthalten werden nach dem Motto „die Wissenschaft hat festgestellt, dass Euch das nicht zu interessieren hat“ ist übergriffig.
Links
Europa-Parlament, Legislative Train Schedule: Plants produced by certain new genomic techniques in „A European Green Deal“
SAG Schweizer Allianz Gentechfrei: Stimmen der Wissenschaft gegen Deregulierungspläne der EU-Kommission (5.12.23)