Das System ändern, den Lebensstandard halten
Alle reden vom Klima. Wir auch. Wir wollen unsere Lebensqualität nicht aufgeben.
Die gute Nachricht: das ist nicht nötig! Aber …
Inhaltsverzeichnis
Ausgangslage
Um unsere Lebensqualität behalten zu können, müssen wir unseren Lebensstil ändern; Anpassen reicht nicht mehr. Mit einer genussvollen und lebensfreudigen, aber auch verantwortungsvollen Konsumation (SDG 12) beeinflussen wir automatisch unsere eigene Gesundheit (SDG 3), die Erderwärmung (SDG 13) und auch die globale Armut (SGD 1) sowie den Hunger (SDG 2).
Anders ausgedrückt: Wir können unseren Lebensstil und unsere Ernährungssysteme ändern, ohne unsere Lebensqualität zu verringern, und dabei gleichzeitig dazu beitragen, die Lebensqualität im globalen Süden sogar zu erhöhen und die Erderwärmung zu reduzieren.
Die IPCC-Berichte zeigen regelmässig: Der Lebensmittelsektor gehört weltweit zu den grössten Treibhausgasproduzenten. 2019 kam 22% der Treibhausgase aus der Landwirtschaft ↵.
Wie kann die globale Erwärmung bei 1.5°C gestoppt werden? Um das Pariser Klimaziel zu erreichen, müssen die Treibhausgasemissionen reduziert werden, und zwar, je nach Rechnungsmodell und Sektor, zwischen 40-70%. Wo können wir am wirkungsvollsten ansetzen? Das Sustainable Development Solutions Network (SDSN), eine globale Initiative der Vereinten Nationen für Nachhaltigkeitslösungen, fordert eine Transformation des globalen Ernährungssystems.
Das wissenschaftliche Gremiums Ernährungszukunft Schweiz (das sind über vierzig Forscherinnen und Forschern führender Institutionen des Landes) schreibt: „Einer der grössten Hebel, um die 17 SDGs und das Pariser Klimaziel zu erreichen, ist die Transformation des globalen Ernährungssystems.»
Die Statistik sieht gut aus
Die Emissionen in der Schweiz sind rückläufig und betragen knapp 5 Tonnen CO2-Äquivalente pro Person. Aber die Emissionen unserer Importe sind es nicht. Das heisst, unsere Statistik sieht zwar gut aus, aber nur, weil – so will es das Kyotoprotokoll ↵ – die importierten Treibhausgase (THG) nicht dazu gezählt werden. Die Statistik zeigt die Emissionen in den Produktionsländern, nicht in den Konsumländern. Wir importieren doppelt so viele Treibhausgase, wie hier produziert werden ↵. Natürlich exportieren wir auch Güter, deren Herstellung in der Schweiz THG freigesetzt haben, aber die Gesamtumweltbelastung unseres Konsums bleibt trotzdem doppelt so hoch, wie die Statistik (der hier entstandenen THG) zeigt ↵.
Für die gesamte Ernährung in- und ausser Haus beträgt der Treibhausgasfussabdruck der Schweiz ca 22,5Mt CO2 eq. Dieser Abdruck muss bis 2030 um 40 Prozent verringert werden (↵ p34).
Die Rechnung ist unvollständig
Für die globale Lebensmittelwertschöpfungskette reicht diese Berechnung aus unserer Sicht allerdings nicht. Entlang der ganzen Wertschöpfungskette werden Ressourcen verbraucht (Wasser, Energie, Materialien) und es entstehen nebst den als Treibhausgase verrechneten Emissionen wie CO2, Methan, Lachgas usw. … auch giftige Substanzen und Schadstoffe in Luft, Boden und Wasser; bereits in den Herstellungsländern und nicht erst bei uns. Viele dieser Faktoren beeinflussen die Gesundheit aller Lebewesen, die Biodiversität und dadurch mindestens indirekt auch das Klima.
«Wir müssen alles tun, um unsere Treibhausgasemissionen bis 2030 um die Hälfte zu reduzieren»
Forderung der MarcheBleue
Netto Null reicht nicht
Bereits im IPCC 2007 bestand Konsens über die Ursachen der Erwärmung ↵: «Der grösste Teil des beobachteten Anstiegs der mittleren globalen Temperatur seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist sehr wahrscheinlich durch den beobachteten Anstieg der anthropogenen (also durch die Menschen verursachte) Treibhausgaskonzentration verursacht.» Es braucht also keine höhere Mathematik, um auszurechnen, dass der grösste Hebel gegen den Klimawandel die Reduktion der THG-Produktion wäre.
Ganz ohne Treibhausgasemissionen kommt unsere Gesellschaft allerdings nicht aus. Deshalb kommt eine weitere, etwas abstrakte, Gleichung dazu: Man produziert am einen Ort zwar THG, versucht aber gleichzeitig, an einem andern Ort CO2 aus der Atmosphäre zu ziehen. Ziel ist, gleich viel THG zu binden wie man produziert und so, wenigstens buchhalterisch, ein Netto Null Resultat zu erzielen.
Netto Null bis 2037 heisst z.B., dass ab 2037 wieder soviel CO2Äquivalente aus der Atmosphäre genommen werden sollen wie (ab 2037) ausgestossen werden. Netto 0 bis 2050 bedeutet, dass man dieses Ziel erst für 2050 anstrebt. Immerhin. Nur: Das « Wiederherausziehen » ersetzt die dringend nötige Reduktion der Produktion nicht, es kann sie höchstens Ergänzen. Auch die Zuverlässigkeit ist mit erheblichen Risiken verbunden: Gemäss IPCC-AR6 (p.40) sind zum Beispiel Aufforstung, besseres Waldmanagement, Bindung von Kohlenstoff im Boden und die Wiederherstellung von Mooren Möglichkeiten, um CO2 zu binden, aber was geschieht, wenn die aufgeforsteten Bäume gefällt und z.B. als Brennholz verwendet werden, die Moore wieder drainiert und so weiter? Wir sind deshalb nicht die einzigen, die befürchten, dass diese Kompensation ein Werkzeug sei, das erlaubt, einfach so weiterzumachen wie bisher. Deshalb werden solche Projekte auch häufig als greenwashing bezeichnet.
Aufruf, Notruf, Marsch
Die Marche Bleue, die aktuell von Genf nach Bern unterwegs ist, ruft «die gesamte Gesellschaft, insbesondere die Akteure in Politik, Wirtschaft und Verbänden in Absprache mit der Bevölkerung und der Wissenschaft auf, mit höchster Priorität alles zu tun, um unsere Treibhausgasemissionen bis 2030 um die Hälfte zu reduzieren und vor 2050 eine Netto-Null zu erreichen, während wir gleichzeitig unsere Ökosysteme schützen und die Gerechtigkeit in unseren Gesellschaften gewährleisten.»
«Einer der grössten Hebel, um die 17 SDGs und das Pariser Klimaziel zu erreichen, ist die Transformation des globalen Ernährungssystems»
SDSN-Leitfaden, p.11
Wo ansetzen und wie?
Von allen Sektoren (Bau, Transport, Ernährungssysteme) mit grossem Klimaimpakt ist es der Ernährungssektor, in dem jede.r von uns ab heute aktiv werden kann und zur Verbesserung beitragen, ohne dass zuerst der politische Wille vorhanden sein und der legale Rahmen dazu geschaffen werden muss.
Der IPCC-Rapport zeigt die Gebiete mit dem grössten Handlungsbedarf auf. Der SDSN-Bericht und der BürgerInnenrat schreiben Ziele vor und konkrete Massnahmen, die den Klimaimpakt der ganzen Lebensmittelwertschöpfungskette beeinflussen.
«Anpassungen der Ernährung und des Konsums sind eine zwingende Voraussetzung für die Erreichung der SDGs, da diese Ziele nicht mit produktionsseitigen Verbesserungen allein erreicht werden können. Um die globale Umweltbelastung auf die ökologische Tragfähigkeit zu reduzieren, ist eine markante Umstellung des Nahrungsmittelkonsums erforderlich. Das bedeutet eine pflanzenbetonte (flexitarische) Ernährung, die sich an den nationalen Ernährungsempfehlungen und der Planetary Health Diet orientiert. Diese Ernährung geht mit einer im Vergleich zu heutigen Konsummustern in der Schweiz starken Reduktion des Fleischkonsums und einer deutlichen Reduktion des Milchprodukte- und Eierkonsums einher sowie einer Abnahme des übermässigen Konsums von alkoholischen Getränken, Zucker und Kaffee. Der Verzehr von Gemüse, Hülsenfrüchten, Nüssen, Getreide und Früchten ist hingegen zu steigern. Das Konsumverhalten und die Ernährung müssen dem individuellen, ernährungsphysiologischen Bedarf angepasst werden, um Lebensmittelverschwendung durch Food Waste und dem Konsum über den Bedarf hinaus für eine gesunde Ernährung zu vermeiden. Konsumiertes Gemüse und Obst sollten möglichst aus regionaler, saisonaler und standortangepasster Produktion stammen, ohne Flugtransporte und beheizte Gewächshäuser. Weniger stark verarbeitete Produkte mit weniger Zusatzstoffen sind zudem zu bevorzugen» empfiehlt das wissenschaftliche Gremium Ernährungszukunft Schweiz im bereits erwähnten Leitfaden „Wege in die Ernährungszukunft“.
Eine Umstellung des Nahrungsmittelkonsums zieht eine Umstellung des ganzen Ernährungssystems nach sich, die Konsument.inn.en allein könnens nicht richten.
Wir brauchen NACHHALTIGE ERNÄHRUNGSSYSTEME, lies Agrarökologie, UNDROP (die UN-Deklaration über die Rechte der Bäuerinnen und Bauern und anderen Menschen, die in ländlichen Gebieten arbeiten ebnet den Weg für ein nachhaltiges, resilientes und soziales Nahrungsmittelsystem ↵) Ernährungssouveränität (Via Campesina prägte den Begriff für eine bedürfnisbasierte, nachhaltige Entwicklungsstrategie und Lebensweise in ländlichen Regionen ↵), Planetary Health Diet, etc.
«Eine Umstellung des Nahrungsmittelkonsums zieht eine Umstellung des ganzen Ernährungssystems nach sich, die Konsument.inn.en allein können’s nicht richten»
1. Nachhaltige Wertschöpfungsketten
Die drei wichtigsten Faktoren entlang der Wertschöpfungskette sind
- Transparenter Handel, faire Einkommen, sozialverträgliche Preise entlang der ganzen Wertschöpfungskette. Das wissenschaftliche Gremium der Ernährungszukunft Schweiz setzt folgendes Ziel: «Beschäftigte entlang der Lieferketten aller in der Schweiz konsumierten Lebensmittel sollen bis 2030 existenzsichernde Einkommen und Löhne erhalten.»
- Kurze, gesunde Kreisläufe zum Vermindern die Auswirkungen unseres Konsums auf die Umwelt/das Leben hier und im globalen Süden. „Über 80 Prozent der Landfläche, die benötigt wird, um in der Schweiz konsumierte Nahrungsmittel zu produzieren, liegen ausserhalb des Landes und mehr als 95 Prozent der negativen Biodiversitätseffekte fallen nicht in der Schweiz an … Der Biodiversitäts-Fussabdruck der Schweiz übersteigt die globalen Grenzwerte um das Vierfache». Dazu tragen auch unser Konsum von Lebensmitteln aus Ländern mit bedrohten «Biodiversitäts-Hotspots» wie Brasilien (Soja, Kaffee, Reis), Westafrika (Kakao), Kolumbien (Kaffee) und Indonesien (Palmöl, Kakao) bei, was zur Abholzung und zum Verlust der Biodiversität in feuchten tropischen Ökosystemen führt. Die Landnutzungsänderungen im Globalen Süden haben weltweite Auswirkungen wie den Klimawandel und Biodiversitätsverlust, die wiederum direkt die Schweizer Wirtschaft und Bevölkerung betreffen.“ (auch das ein copy-paste aus dem Leitfaden, den das wissenschaftliche Gremium Ernährungszukunft Schweiz publiziert hat)
- Saisonale Produkte, flexitarische, pflanzenbetonte und möglichst wenig transformierte Ernährung im Handel. Das Angebot in den Läden muss es den Konsument.inn.en erleichtern, einen Beitrag zum Erreichen des Pariser Klimaziels und der SDGs leisten!
2. Bewusst Konsumieren
«Mit einer Umstellung der Ernährung hin zu einer vorwiegend pflanzenbetonten Ernährungsweise lassen sich die negativen Umwelteffekte des Stickstoff-Einsatzes global betrachtet um rund 30 Prozent reduzieren, jene des Phosphor-Einsatzes um rund 20 Prozent.» schreibt das das wissenschaftliche Gremium.
Das heisst: runter mit
Fleischkonsum ↵
Food waste ↵
Überkonsum und Fehlernährung
Klimabewusst nachhaltige Nahrungsmittel einkaufen bedeutet ausserdem:
- Weniger ernährungsbedingte Abholzung. Sie ist ein wichtiger Treiber für den weltweiten Biodiversitätsverlust und wurde für den Schweizer Lebensmittelkonsum auf rund 102 km2 pro Jahr geschätzt.
- Weniger Importprodukte. 15% der Treibhausgasemissionen des Lebensmittelsektors kommen vom internationalen Transport. Das entspricht 3% der globalen Treibhausgase!
- Respekt der Menschenrechte und der UNDROP. Gemäss SDSN Schweiz leben etwa ein Fünftel der landwirtschaftlichen Haushalte mit Einkommen unter dem Existenzminimum (gemessen an der Sozialhilfe). „In Ländern, aus denen die Schweiz Lebensmittel und Rohstoffe importiert, sind existenzsichernde Stundenlöhne für Beschäftigte in der Nahrungsmittelproduktion derzeit oft nicht gewährleistet.“
3. Standortangepasste Landwirtschaft
Durch die intensive und nicht nachhaltige Nutzung gingen viele kleine Landschaftsstrukturen wie Hecken verloren. „Dieser Verlust wird durch den Einsatz grosser Mengen an Düngemitteln und Pestiziden, artenarmer Aussaat und einheitlicher mechanischer Nutzung noch verstärkt. … Da der grösste Teil der CO2-Emissionen im Ernährungssystem auf den Einsatz fossiler Energieträger (z. B. für Düngemittel Herstellung, Brenn- und Treibstoffe) zurückgehen“, fordert das wissenschaftliche Gremium, dass der Einsatz fossiler Energieträger in Zukunft möglichst vermieden und durch andere Energieträger, Technologien und Produktionssysteme (z. B. vermehrter Anbau von Leguminosen) ersetzt werden muss.
Eine nachhaltige Landwirtschaft, im Einklang mit der Natur:
- Folgt den Agrarökologischen Prinzipien. Schonende, Humus-aufbauende Bodennutzung, minimaler «Hilfsmitteleinsatz» zum Schonen der Bodenlebewesen und der Umwelt, und eine möglichst ganzheitliche Verwertung der Produktion (Minimieren von Foodwaste auf der ganzen Wertschöpfungskette).
- Braucht «guten» Boden. Der kann den Wasserhaushalt regeln und ist, nach den Ozeanen, der zweitgrösste Kohlenstoffspeicher. Gemäss SDSN „… sind aber insbesondere ackerbaulich genutzte Böden in der Schweiz potenziell vom Verlust organischer Bodensubstanz betroffen, was negative Konsequenzen für viele Bodenfunktionen hat“ und auch ihre Anpassungsfähigkeit an den Klimawandel deutlich verringert.
- Tiere gehören in unsere Landwirtschaft, die Schweiz hat 920’000 ha Grünlandfläche. Wiederkäuer verwandeln für uns nicht verdaubares Gras und tragen zur Humusbildung bei. Doch auch für Tiere gilt: kurze Kreisläufe (möglichst kein Importfutter), standortgerechte Landwirtschaft (weniger Futter von Ackerflächen, die für Menschennahrung benutzt werden könnte), und artgerechte Haltung ↵
Umsetzung
Es ist ermutigend, wie sich immer mehr staatliche und nichtstaatliche Akteure zur Eindämmung des Klimawandels einsetzen. Städte, Unternehmen, die Zivilgesellschaft, transnationale Initiativen und öffentlich-private Einrichtungen sind „am Thema“.
Die Pandemie hat gezeigt, dass wir fähig sind, kurzfristig unsere Lebensgewohnheiten zu ändern. Es gibt genug Ansatzpunkte, dass jede.r schon heute anfangen kann!
Abkürzungen
IPCC: Intergovernmental Panel on Climate Change →
SDG: Sustainable Development Goal. Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung – die Schweiz und die SDGs →
SDSN: Sustainable Development Solutions Network, a global initiative for the United Nations
SDSN Schweiz : Netzwerk für Nachhaltigkeitslösungen vom Wissen zum Handeln für die Agenda 2030 →
THG: Treibhausgase
UNDROP: UN-Deklaration über die Rechte der Bäuerinnen und Bauern und anderen Menschen, die in ländlichen Gebieten arbeiten →
Referenzdokumente und weiterführende Links
Referenzdokumente
– Nachhaltige Entwicklungsziele, SDGs →
– IPCC Climate Change, 6th assessment report, Mitigation of Climate change, 2022 Summary for policy makers →, Factsheets →
– Bundesamt für Umwelt BAFU, Treibhausgasinventar →
– Analysis of food and environmental impacts as a scientific basis for Swiss dietary recommendations →
– SDSN-Schweiz: Der Leitfaden des wissenschaftlichen Gremiums Ernährungszukunft Schweiz →
Le guide du Comité scientifique Avenir Alimentaire Suisse →
– Empfehlungen des BürgerInnenrates →
Les recommandations de l’Assemblée Citoyenne →
Weitere Links
Bundesamt für Umwelt BAFU, Klima: das Wichtigste in Kürze →
BAFU, Auswirkung der Ernährung auf die Umwelt →
BAFU, 4 Phasen einer Ökobilanz →
Energiestiftung Schweiz, Hintergrundpapier Graue Energie, inkl. Definitionen →
Energiestiftung Schweiz, Konsum und Energie, so senken Sie Ihre Umweltbelastung →
FAO, Livestock and Landscapes →
Treibhauspodcast, Episode 41 – März 2023 – für eine klimagerechte Landwirtschaft →
le courrier, 17 avril 2023, article de Nathalie Gerber Mccrae: Le goût amer des crédits carbones →