Wo die rote Flagge mit dem weissen Kreuz prangt erwartet man Schweiz.
Die Konsumenten wollen wissen, was sie kaufen und wofür sie ihr Geld ausgeben, auch bei Lebensmitteln. Swissness ist das Schlagwort.
Kartoffeln sind keine Schrauben
In Industrieländern ist die Landwirtschaft nicht konkurrenzfähig. Die Produktion von Lebensmitteln, im Gegensatz zu der Produktion von z.B. Eisenwaren, ist abhängig von ortsgebundenen natürlichen Ressourcen, allen voran Boden und Wasser, und ihre Haltbarkeit ist beschränkt. Der Import ist deshalb die billigste Lösung, allerdings nur bei funktionierendem Internationalem Handel. Die bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (umgangssprachlich Bilaterale) sollen u.a. die Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU regeln. Das dazugehörende Agrarabkommen brachte ab 1999 die schrittweise Liberalisierung des Handels und den Zollabbau bei zahlreichen Agrarprodukten.
Die unterschiedlichen Standards der verschiedenen Länder führen allerdings auch zu verschiedenen Produktions- und Produktepreisen. “Hochpreisinsel Schweiz” wurde zum Schlagwort und Lebensmittelschmuggel zur weit verbreiteten Freizeitbeschäftigung.
Um das Problem der hohen Konsumentenpreise in der Schweiz zu bekämpfen, machte Bundesrätin Doris Leuthard 2006 den Vorschlag, das Cassis-de-Dijon-Prinzip auch für den Warenimport in die Schweiz anzuwenden. Dadurch wurden im EU-Raum zugelassene Produkte automatisch auch in der Schweiz zugelassen. Damit sollte das Preisniveau in der Schweiz gesenkt werden, das rund 20 Prozent höher ist als im angrenzenden Ausland. (1) Die Angst, dass Schweizer Landwirtschaftsprodukte durch billige EU-Ware mit tieferen Produktionsstandards und Normen verdrängt werden könnten, hat sich bis heute nicht bestätigt: Nach vier Jahren sind lediglich 45 Produkte-Kategorien für den erleichterten Import bewilligt worden. Dazu gehören zum Beispiel Energy-Drinks und Bier. Landwirtschaftsprodukte hat es darunter nur wenige. (2, 3). Trotzdem bleibt “Cassis de Dijon” bestehen. Aufwändig für den Konsumenten – man muss das Kleingedruckte auf den Etiketten lesen um zu wissen, wieviel Frucht im Sirup ist, das heisst ob er nach der niedrigsten in der EU erlaubten Norm oder der CH-Norm produziert wurde. – Aufwändig auch bei jedem Import und jeder Kontrolle.
Wir können nur die Qualitätsstandards in unserem Land bestimmen. Und diese sind in Vielem höher als sonstwo: Zum Beispiel sind nirgendwo sonst auf der Welt, nur in der Schweiz, Batteriehühner verboten, und das schon seit über 25 Jahren. Auch die erlaubten Besatzdichten sind niedriger als in der EU. Um die Schweizer Landwirtschaft gegenüber dem Agrarfreihandel zu stärken wurde 2012 die Qualitätsstrategie eingeführt. Sie soll mittels Partnerschaften innerhalb der Wertschöpfungskette und in einer Charta festgehaltenen Werten die Positionierung der Schweizer Land- und Ernährungswirtschaft auf den immer offeneren Märkten unterstützen. (4)
Nicht überall, wo Swissness drauf steht, ist auch Swissness drin
Das Label Suisse Garantie gibt es bereits seit 2003. Es soll garantieren, dass 100 Prozent der Rohstoffe aus der Schweiz kommen. Die Minimalvorgaben sind 60% der Herstellungskosten für Industrieprodukte und 80% des Rohstoffgewichts für Lebensmittel. Milch und Gemüse von Gebieten bis 10 Kilometer jenseits der Schweizer Grenze und aus sogenannten Zollanschlussgebieten dürfen zollfrei in die Schweiz eingeführt werden und die Marke Suisse Garantie tragen. Das sind jährlich Gemüse von rund 300 Hektaren und 23 Millionen Liter Milch von französischen Bauern. (5) Letztere werden heute noch unter dem Label “Genève Région Terre Avenir” vermarktet, aber unter der neuen Swissness-Regelung sollen sie kein Schweizerkreuz mehr tragen dürfen. Seit dem Beitritt von Genf zur Eidgenossenschaft vor 200 Jahren produzierte das französisch gebliebene Hinterland Lebensmittel für den Stadtkanton.
Darüber, ob Produkte als Schweizerisch gelten, wenn sie mit Standards sowohl von Bio Suisse als auch von Suisse Garantie, mit Schweizer Personal, Schweizer Rohstoffen, aber eben ennet der Grenze produziert werden, wird momentan gestritten. So wie auch über das Umgekehrte: Lebensmittel, bei denen stämtliche relevanten Verarbeitungs- und herstellungsschritte in der Schweiz geschehen, sollen das Schweizer Kreuz tragen dürfen, auch wenn die Rohstoffe vollständig ausländisch sind. Ein Beispiel dafür ist Nescafé. (alimenta 9/2015)
Wenn die Swissness “um ohne Verzögerung umgesetzt werden zu können” verwässert wird (wie von Migros, Bauernverband?! und Nestlé offenbar vorgeschlagen), dann müssen die Bauern ins Ausland und wie Bio-Gemüsebauer Rathgeb importieren … (6)
Swissness noch mehr verwässern?
Aktuell wird darüber im Parlament debattiert. (7) Mehrere Ständeratsmitglieder kritisierten die vor zwei Jahren vom Parlament beschlossene Swissness-Vorlage. Die Verordnungen seien kompliziert und es komme viel administrativer Aufwand auf Firmen zu, die die Marke Schweiz nutzen wollten. (8)
Klar, dass Forderungen wie mehr Ernährungssicherheit und -souveränität, Swissness, FairFood und Nahrungsmittelspekulationsstopp einigen nicht passen (alimenta 9/2015). Es wird behauptet, sie seien der Grund, dass die Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten in der Lebensmittelbranche zurückgehen. Ist Stillstand wirklich Rückschritt, wenn man sich mit offenen Augen umsieht, was uns die Produkte der Lebensmittelindustrie gebracht haben? An gesunden, biologisch angebauten, vollwertigen Lebensmitteln muss wenig geforscht und entwickelt werden. Dient die Entwicklung in der Lebensmittelbranche dem Wohl der Konsumenten oder eher der Ausschöpfung des Marktes?
Eigentlich wäre es doch so einfach und schon der Name Swissness selbsterklärend: Produkte aus der Schweiz. Punkt. Doch offenbar ist das Verkaufsargument Swiss so stark, dass jeder davon Gebrauch machen möchte, auch die grössten Unternehmen mit den stärksten Marken.
Links:
- Bundesgesetz über das Cassis de Dijon-Prinzip (1) >>>
- SRF: «Cassis de Dijon»-Prinzip auf der Kippe (2) >>>
- Une Suisse moins chère? Le flop du Cassis de Dijon (3) >>>
- Qualitätsstrategie (4) >>>
- K-Tipp über “Schweizer Milch von Kühen aus Frankreich” (5) >>>
- Landbote: “Swissness: Es gärt unter Zürcher Gemüsebauern” (6) >>>
- Aktuelle Debatten zu “Swissness” im Parlament (7) >>>
- Häufige Fragen – Swissness (geltendes Recht) >>>