von Hermann Dür(*)
Gegenwärtig leiden rund eine Milliarde Menschen auf dieser Welt an Hunger. Wir kennen die Bilder aus dem Fernsehen – aber sie lassen die meisten letztlich kalt, denn in der Schweiz sind uns nur volle Lebensmittelregale bekannt. Doch ist dieser Zustand für immer garantiert ?
In der weltweiten Nahrungsmittelsituation erkennen wir, dass einiges im Umbruch ist: Da ist einmal die Weltbevölkerung: Sie hat sich seit 1900 von 1.6. Mia. auf heute 7 Mia. vervierfacht , und das Wachstum beschleunigt sich sogar noch. Damit wächst auch der Nahrungsmittelbedarf, während das Ackerland pro Kopf kontinuierlich abnimmt. Auch die Getreideproduktion kann trotz Produktivitätsfortschritten seit Jahren mit diesem Wachstum nicht mehr mithalten. Und durch den wachsenden Wohlstand steigt der Fleischkonsum. Für 1 kcal Fleisch benötigen wir aber fast 10 mal mehr Ressourcen als für 1 kcal Getreide, was die Situation weiter verschärft. Mit der Erfindung von Biotreibstoffen wird plötzlich Land der Nahrungsproduktion entzogen, und zwar zu Gunsten der Energieproduktion. Die zunehmenden Wetterextreme (Dürre und extreme Niederschläge) verknappen weiter das Nahrungsmittelangebot, ebenso wie die verdichteten und erodierten Böden.
Trotzdem: Ist das alles nicht nur „weit, weit weg“ von der Schweiz von Bedeutung ?
Nun, unsere eigene Ernährungssicherheit hängt – nebst den Vorräten – davon ab, a) wieviel wir selber produzieren, und b) wieviel wir importieren können. Solange die Summe mindestens 100% ergibt, ist die Ernährung gesichert.
Zur Eigenproduktion: Laut Kalorienmodell des Bundes beträgt der Selbstversorgungsgrad der Schweiz momentan netto knapp 55%. Gehen wir von der benötigten Bodenfläche für unseren Konsum aus, ist die Zahl jedoch wesentlich tiefer. Ja, laut WTO-Statistik importieren Herr und Frau Schweizer pro Kopf sogar am meisten Lebensmittel auf der ganzen Welt. Diese Fakten entlarven übrigens die angebliche Abschottung der Schweiz als Mythos. – Sicher ist: Im internationalen Vergleich hat die Schweiz auf jeden Fall einen sehr tiefen Selbstversorgungsgrad – was unserer sonstigen Gewohnheit, alles zu versichern, völlig widerspricht.
Warum konnte die Schweiz denn ihren Selbstversorgungsgrad, trotz des technischen Fortschrittes, in den letzten Jahrzehnten nicht steigern ? – Es gibt mehrere Gründe dafür: Wir haben nur begrenzt landwirtschaftlich nutzbares Land, und parallel zur Produktivitätssteigerung wuchs eben auch die Bevölkerungszahl, v.a. durch Immigration. Jedes Jahr haben wir rund 80‘000 Mägen mehr zu füllen – wenn es schon nur „normal“ weitergeht, sind es total über 10 Millionen im Jahr 2050 ! Und jedes Jahr wird dazu eine Fläche entsprechend der Grösse der Stadt St. Gallen zubetoniert. (Trotzdem wird das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung bei der Immigrationspolitik übrigens nicht einbezogen.) Dazu kommen unsere Konsumgewohnheiten, die zu einem erheblichen Import von z.B. ausländischen Spezialitäten geführt haben.
Ein ganz gefährlicher Grund kommt aber aus der Ökonomie: Da die Schweiz von Natur aus kein Landwirtschaftsland ist, ist ein hoher Selbstversorgunggrad bei uns teuer. Das heisst, wir können mehr Geld verdienen, wenn wir uns vermehrt dem Importrisiko aussetzen! Dass man mit mehr Risiko mehr Geld verdienen kann, sagt Ihnen auch jeder Banker, wenn Sie Anlagemöglichkeiten suchen – nur wissen wir dort inzwischen, dass dies in die Katastrophe führen kann. Die letzte Hungersnot in der Schweiz liegt aber fast 100 Jahre zurück – und eine lange Katastrophenlücke führt bekanntlich zu Vergessen und Leichtfertigkeit…
Damit gelangen wir zur Betrachtung des Importes als zweite Säule der Ernährungsversorgung. Ein geringer Selbstversorgungsgrad scheint für viele kein Problem zu sein: „Wir können ja dank hoher Kaufkraft wenn nötig immer alles importieren.“ Die Grundidee der vom Bundesrat angestrebten grössten Agrarreform der Schweiz aller Zeiten baut genau auf dieser Voraussetzung auf. Ich spreche vom Projekt „Agrarfreihandel mit der EU“, oder gemäss WTO gleich mit der ganzen Welt: Vor allem Massengüter, die wir in der Schweiz aus objektiven Gründen (Topographie, Zersiedelung, Kostenumfeld etc.) nie umweltschonend und konkurrenzfähig werden herstellen können, würden dann nicht mehr mit Zöllen geschützt, sondern einfach frei importiert.
Als Beispiel für Massengüter sei die Brotgetreidebranche genannt: Die Müllereibranche liess von der Universität St. Gallen eine Studie verfassen über die Auswirkungen eines Agrarfreihandels auf die schweizerische Weichweizenmüllerei. Resultat: Die meisten Weichweizenmühlen dürften dies nicht überleben, denn erstens ist unser Kostenumfeld wesentlich höher als in der EU, zweitens erhalten wir keine Fördergelder wie sie die EU-Mühlen erhalten, und drittens lassen unsere gewerblichen Strukturen nicht die EU-Preise zu. – Wenn aber die Mühlen der Schweiz das inländische Brotgetreide mit seinem deutlich höheren Preis nicht mehr abnehmen können – wer kauft dann noch das inländische Brotgetreide ? – Ein Agrarfreihandel bedeutete das Aus, zumindest für den Kern, sowohl des Brotgetreideanbaus wie auch der –verarbeitung in der Schweiz.
Gerade deshalb – so wird etwa behauptet – sei die beste Ernährungssicherung mit einem Agrarfreihandelsabkommen gegeben, da uns dann die Importmöglichkeit gesichert sei. Ein tragischer Irrtum, wie die Schweiz schon einmal erleben musste: Ein Agrarfreihandelsabkommen ist nämlich kein Beistandsabkommen. Es regelt nur die Höhe der Zölle. Dass Verträge immer wieder – gerade auch von der EU und EU-Ländern – gebrochen werden, ist hinlänglich bekannt, wie mittlerweile sogar angesehene Wirtschaftszeitungen eingestehen. Und wer sich bei den Nahrungsmitteln von anderen abhängig macht, fordert diese geradezu heraus, im dauernden staatlichen Powerplay Nahrungsmittellieferungen mit politischen Auflagen zu verbinden – oder halt eben eine Weile nicht mehr zu liefern – oder wenigstens damit zu drohen, denn bekanntlich muss die Kavallerei ja nicht immer ausreiten um Wirkung zu erzielen… Und wer sich durch Agrarfreihandel abzusichern glaubt, vernachlässigt erfahrungsgemäss die Selbstversorgungsdisziplin – „der andere wird ja schon vorsorgen“ und „es hat ja bisher immer geklappt“. Man spricht vom „moral hazard-Problem“ (ursprünglicher Begriff aus der Versicherungsbranche). Genau dieser Mechanismus hat auch in der letzen Agrarfreihandelsphase gespielt. Die Selbstversorgungsdiziplin wurde automatisch vernachlässigt (die Mühlen z.B. erhielten nur noch knapp 15% Inlandgetreide, der Rest wurde importiert) und damit wurde ab 1917 – selbstverschuldet – wesentlich zum Hunger, und schliesslich zum Generalstreik in der Schweiz beigetragen.
Ernährungssicherung durch Agrarfreihandel funktioniert nur, wenn mindestens drei Voraussetzungen gegeben sind:
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Es muss grundsätzlich ausreichend Nahrung verfügbar sein, damit überhaupt etwas importiert werden kann. – Diese Problematik habe ich schon beleuchtet.
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Die internationale Logistik muss zuverlässig funktionieren. – Die Begrenzung der Ölvorräte, die zu reduzierenden Umweltemissionen oder unsere technische Verletzlichkeit infolge Hypervernetzung setzen hier klare Fragezeichen.
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Es muss ein kooperatives Umfeld vorhanden sein. – Da Ernährung vital ist, reicht es eben keineswegs aus, wenn wir nur keine „permanente Instabiltät“ haben, wie es das Strategiepapier des BLW „Land- und Ernährungswirtschaft 2025“ annimmt. Die Kooperation muss für die Ernährung praktisch lückenlos sein. – Die reale Welt ist heute jedoch geprägt von Staatsschuldenkrisen, sozialen Unruhen, massiven Vertragsbrüchen von Rechtsstaaten, Drohungen mit grauen Listen, der Aufoktruierung fremder Gerichte (auch gegenüber der Schweiz), einsetzenden globalen Verteilkämpfen um Rohstoffe oder unter dem Motto „Hunting the rich“ (The economist 24.9. 2011) um Steuersubstrat, von globalen Migrationsströmen, Machtverschiebung Richtung BRIC-Staaten – und dem Versuch absteigender Staaten, diese zu verhindern, dem Flächenbrand in der arabischen Welt, den nuklearen Sprengsätzen Irans – und v.a. einer in der Geschichte noch nie dagewesenen Vernetzung. Damit kommt Komplexität ins Spiel und damit die Tatsache, dass unvorhersehbare Nebenwirkungen überall auf der Welt direkt und indirekt für Instabiltiät sorgen können. – Damit wird die Erwartung des kooperativen Umfeldes schlicht zum Wunschdenken.
FAZIT
Ja, Ernährungssicherung ist sehr wohl ein Thema für die Schweiz.
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Solange die drei genannten Voraussetzungen für einen Agrarfreihandel in der modernen Welt nicht vorliegen, müssen wir – zumindest grundsätzlich – von diesem absehen und die Selbstversorgungsfähigkeit, d.h. die dezentral produzierende Landwirtschaft sowie ihre vor- und nachgelagerten Bereiche stärken.
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Die Exportrückerstattungen an die verarbeitende Industrie müssen gesichert bleiben, damit die inländische Produktion nicht durch Veredelungsverkehr verliert.
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Die Pflichtlagerhaltung gewinnt an Bedeutung
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Die „Produktion“ soll bezahlt werden, und nicht die „Nicht-Produktion“.
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Die Umdefinition der Eidgenössischen Finanzkontrolle für das landwirtschaftliche Einkommen ist zu überprüfen, da diese die Produktion zu schwächen droht.
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Es braucht eine Lobby für die Massengüter, da deren inländische Produktion am ehesten gefährdet ist, sie für die Grundnahrungsmittel aber unverzichtbar sind.
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Wir sollten aufhören zu sagen, wir brauchten die Selbstversorgung für den Fall eines Krieges. Wir brauchen Selbstversorgung wegen den modernen Risiken. Wegen der weltweiten Nahrungsmittelverknappung, der unsicherer Zukunft der Logistik und weil Systemstörungen im internationalen Handel leider üblich sind.
Wir brauchen Ernährungssicherung nicht wegen den Bauern, Müllern etc. Wir brauchen sie, damit die Ernährung für die ganze Gesellschaft möglichst gesichert bleibt!
(*)Hermann Dür:
Lic.oec. HSG und Müllereitechniker,
Geschäftsführer der Mühle Dür und VRP der Lagerhaus AG Buchmatt,
Präsident Mühlengenossenschaft Kanton Bern,
Vorstandsmitglied Dachverband Schweizerischer Müller und der Schweizerischen Vereinigung für Industrie und Landwirtschaft SVIL.
Wohnhaft in Burgdorf.
Danke für den Artikel.
Sehr gute Argumentation! Ich bin dabei, bei der Selbstversorgung. die Landwirte im Dorf werden sicher Freude haben. Nur, wer unterstützt diese auf der politischen Bühne? Man mag Andreas Aebi mögen oder nicht, aber jener hat wie auch Herr Dür einfach nur recht!