Dieser Artikel, zuerst erschienen in “Vision 2025”, bleibt topaktuell und gerne publizieren wir ihn hier mit der freundlichen Genehmigung vom Autor Ruedi Berli:
Ganz grundsätzlich steht das Essen im Zentrum unseres Lebens. Die Natur und die Gesellschaft werden von den agrarpolitischen Entscheidungen und Modellen stark geprägt. Deshalb ist es wichtig, dass breite Teile der Bevölkerung Interesse daran haben sich an dieser Politik zu beteiligen.
Das Prinzip der Ernährungssouveränität fordert als ein menschliches Grundrecht, dass Menschen ihre eigenen Ernährungspolitik bestimmen können und dass der Zugang zu den Produktionsmitteln (Boden, Wasser, Saatgut, Wissen, Kredit) öffentlich rechtlich garantiert bleibt. Die Ernährungssouveränität wie sie von der weltweiten Bauernbewegung «Via Campesina» definiert wurde beinhaltet auch die Priorität der lokalen Nahrungsmittelproduktion und die Möglichkeit lokale Märkte vor Dumpingimporten zu schützen, sowie im Gegenzug auf marktverzerrende Exportsubventionen zu verzichten. Die zerstörerische Konkurrenzlogik die mit der liberalen Agrarmarktöffnung einherschreitet ist nicht vereinbar mit dem Aufbau sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe.
Die lokale Sektion der Bauerngewerkschaft Uniterre seit Jahren mit gewissem Erfolg für die Umsetzung dieser Prinzipien in Genf ein. So wurde im Jahre 2003 auf Verlangen von Uniterre auf kantonaler Ebene die Kommission Ernährungssouveränität gegründet. In dieser Kommission finden sich Vertreter der Konsumenten, der Produzenten, der Arbeitnehmer, des Handels und der Verwaltung zusammen . Die Arbeiten dieser Kommission führten zur Gründung des Labels «GenèveRégionTerreAvenir» (GRTA) welche die Prinzipien der Qualität (keine GVO), der lokalen Produktion, der Rückverfolgbarkeit und der Fairness garantiert. Auch das kantonale Landwirtschaftsgesetz wurde im Sinne der Ernährungssouveränität überarbeitet. Das ermöglichte, dass ab dem Jahre 2009 in Genf die erste faire Milch der Schweiz (GRTA) verkauft und den Genfer Biogetreideproduzenten ab 2011 ihre Produktion fair bezahlt wird. Leider sind dies immer noch Ausnahmen und Einzelerfolge und abhängig von der konkreten Mobilisierung.
Auf kantonaler Ebene werden zur Förderung der Ernährungssouveränität auch die lokalen Verarbeitungsstrukturen und die Diversifizierung der Produktion unterstützt ;
Produktion von Hopfen und Gertenmalzproduktion, Zusammenarbeit mit den lokalen Bierbrauern. lokale Ölpressen ( u.a. Raps und Sonnenblumenöl). Produktion von Suppenkonserven. Erhalt von zwei bäuerlichen dezentralen kleinen Schlachthöfen. Der Kanton hat auch den Aufbau einer Mostpresse welche Obst- und Traubensäfte in 3-Literpackungen verarbeitet ermöglicht.
Auch die Stadt Genf hat im Rahmen ihrer Nachhaltigkeitspolitik verschieden Aktionen zur Unterstützung bäuerlicher nachhaltiger Landwirtschaft unternommen. So wurde eine mobile Brotgetreidemühle zur Unterstützung bäuerlicher, fair bezahlter Mehl- und Brotherstellung finanziert. Diese Initiative für eine faire handwerkliche Müllerei- und Bäckerei hat auch der bäuerlichen Brotproduktion wieder starken Aufwind gegeben. Aus dieser Initiative ist auch eine Arbeitsgruppe aus bäuerlichen und Konsumentenkreisen zur Versorgungskette im Getreidebau (Sortenauswahl, Selektion, Sorteneigenschaften, Anbautechnik, bäuerliche Müller-, und Bäckerei..) entstanden. Weiter hat die Stadt einer Gruppe von Produzenten ein zentral gelegenes Verteillokal vermietet um den Produktevertrieb zu fördern. Die lokale Setzlingsproduktion für die verschiedenen Vertragslandwirtschaftprojekte wurde ebenfalls durch die Vermietung einer ehemaliger Stadtgärtnerei an den Verein «Les Artichauts» ermöglicht.
Ab dem Jahre 2010 und 2011 wird jeden Tag mindestens ein Produkt aus Genfer Produktion in 21 Kantinen der Schulen und Horte der Stadt sowie einer Agglomerationsgemeinde Vernier verarbeitet, und einmal pro Woche wird ein Menu ausschliesslich aus lokalen Produkten zubereitet. Die Entwicklungsmöglichkeiten dieser direkten Versorgungskanäle werden stark vom Grade der ökonomischen Verbindlichkeit beeinflusst. Weitere Schwierigkeiten oder Probleme liegen in der Versorgungsmöglichkeit, den Logistik- und Budgetfragen sowie der nötigen Anpassung der Koch- und Konsumgewohnheiten an die saisonale Verfügbarkeit der Lebensmittel. Für die 6-12 jährigen Kinder werden in diesem Zusammenhang auch pädagogische Ateliers organisiert.
Im Zuge der schnellen Entwicklung der solidarischen Landwirtschaft (Association pour le maintien d’une agriculture paysanne AMAP) in Frankreich, hat sich die regionale Vertragslandwirtschaft auch in Genf stark entwickelt. Die regionale Vertragslandwirtschaft ist in Genf schon seit 35 Jahren präsent, doch erst im letzen Jahrzehnt hat sich dieses System verbreitet. Heute gibt es in Genf 13 Projekte, welche ca 4000 Haushalte beliefern. Laut einer Studie welche vom Landwirtschaftsdepartement in Auftrag gegeben wurden interessieren sich 25% der Bevölkerung Genf’s für ein solches System. Das heisst es gibt noch ein grosses Wachstumspotential. Dieses ist jedoch einerseits vom Zugang zu Boden, der Möglichkeit von Neuinstallationen und der Kommunikationspolitik (Medien, Gemeinwesen) abhängig. Im Bereich des Zugangs zum Boden für Neuinstallationen gibt es eine Zusammenarbeit mit dem Landwirtschaftsamt. Die Stadt Genf unterstützt seit dem Jahr 2011 auch Arbeitsgruppen zu Hühnerhaltung (Eier und Fleisch). Dabei werden auch grössere Aufzuchtstrukturen studiert. Gleichzeitig findet eine kritische Auseinandersetzung mit der fast vollständigen Industrialisierung der Geflügelproduktion statt.
Die Herausforderungen die sich den lokalen Zivilgesellschaften stellen sind zweierlei:
1. Organisation und Bündelung der Produzenten und der Konsumenten.
Es gibt heute wenig geteiltes und diskutiertes Wissen um die tatsächlichen Produktionsabläufe der Nahrungsmittelorganisation. Handel und Industrie entscheiden in Büroräumen der Grosstädten über Sorten, Produktions-, Verarbeitungs und Vertriebsorganisation und Verfahren. Die Aneignung dieses Wissens durch die Gemeinschaften ist jedoch ein unumkömmlicher Faktor der Entwicklung von Ernährungssouveränität.
Einzig aus direkter Organisation und Bündelung der Betroffenen entsteht das Potential gesellschaftliche, wirtschaftliche, selbstbestimmte Strukturen zu schaffen. Daraus kann auch gesellschaftliche Macht entstehen die Entscheidungsprozesse im Sinne nachhaltiger Entwicklung zu beeinflussen. Die Entwicklung nachhaltiger Wirtschaftskreisläufe im Ernährungssektor ist also nicht möglich ohne politischen Druck und ohne direkte Interessenvertretung. In der zersplitterten Konsum- und Arbeitsgesellschaft ist Organisation und kollektiver Ausdruck der eigenen Bedürfnisse jedoch sehr schwierig. Trotz der trennenden Parteilogik braucht es möglicherweise gerade auch hier Unterstützung durch die öffentlichen Institutionen. Trotz vielen positiven Errungenschaften werden gerade in diesem Bereich die Grenzen des Beispieles Genf klar. Als bespielhafter Ausdruck für diese Machtfragen und Vereinnahmung kann das Nachhaltigkeitsmagazin der Migros oder die Übernahme des Begriffs der Ernährungssouveränität ins neue Landwirtschaftsgesetz stehen.
2. Auftrag an die öffentlichen Institutionen ihrer Verantwortung als Bestimmer der wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen der Marktes nachzukommen.
Im Rahmen neoliberaler Wirtschaftsderegulierung zieht sich der Staat aus der wirtschaftlichen Verantwortlichkeit zurück. Tagtäglich erleben wir diese Übergabe von gemeinschaftlichen Interessen an private Wirtschaftskräfte. In diesem Bereich muss die Zivilgesellschaft fordern, dass der Staat den rechtlichen Wirtschaftsrahmen in einem Sinne bestimmt und lenkt welcher es den Akteuren der lokalen Wirtschaft es ermöglicht eine dezentrale Planwirtschaft von unten zu schaffen und es ihnen erlaubt sich vertraglich aneinander zu binden. Verbindliche Absprachen zwischen Produzenten und Konsumenten über Mengen, Qualität, Preise, Lieferungs- und Zahlungsmodalität müssen nicht nur möglich gemacht, sondern gefördert werden.
Rudi Berli ist Gemüseproduzent bei den Jardins de Cocagne und Sekretär der Bauerngewerkschaft Uniterre.
Weitere Informationen zum Thema:
«Für eine Ernährung mit Zukunft. Souveränität auf Acker und Teller»
Diese 76-seitige Broschüre soll Mut machen, Ernährungssouveränität zu entdecken, zu leben und weiter zu entwickeln. Uniterre. April 2013. Preis: Fr. 5.- zu beziehen bei www.uniterre.ch
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