Volksinitiativen und ein Gegenvorschlag, Freihandel und Etikettenschwindel. Verwechslungen und Klarstellungen:
Ernährungssicherheit: Derzeit oder jederzeit?
„Die Ernährungssicherheit in der Schweiz ist derzeit gegeben“, schreibt der Bundesrat als Antwort auf die eingereichte Initiative. „Lebensmittel stehen ständig in ausreichender Menge zur Verfügung, … die Konsumentinnen und Konsumenten verfügen über genügend Kaufkraft, um die Lebensmittel auch effektiv zu kaufen. …“ (Erläuternder Bericht zum Gegenentwurf des Bundesrates zur Eidgenössischen Volksinitiative «Für Ernährungssicherheit», Seite 13)
Gemäss FAO (Food & Agriculture Organisation of the United Nations) ist Ernährungssicherheit aber erst dann gegeben, „wenn jedermann jederzeit Zugang zu ausreichend sicherer und gehaltvoller Nahrung hat … um ein aktives und gesundes Leben zu führen.“
Jederzeit. Ernährungssicherheit, so wie sie als globaler humanitärer Mindeststandard von der FAO definiert wird, kann nur landesintern und nicht durch Agrarhandel gewährleistet werden.
Auf die Schweiz angewandt bedeutet Ernährungssicherheit deshalb der Erhalt einer eigenen produktiven Landwirtschaft. In Zeiten des blühenden Freihandels heisst das: Intakte Strukturen und Knowhow, um auch bei gestörter Zufuhr den Hunger zu verhindern, damit das Land und seine Bevölkerung im Falle eines Versorgungsengpasses nicht erpressbar ist.
Wer die Nahrung kontrolliert, kontrolliert die Menschen
(Agrar-)Freihandelsabkommen sind, wie der Name sagt, Handelsabkommen – keine Beistandsabkommen. Werden die Handelspartner einander zu Hilfe eilen, wenn Lebensmittelknappheit besteht?
Wir sind abhängig. Die moderne Welt ist verflochten, die Abhängigkeiten gegenseitig und global. Aber wollen wir uns in eine solche Abhängigkeit begeben, dass wir erpressbar werden? Ernährungssicherheit kann nur landesintern gewährleistet werden.
Etikettenschwindel
Die Behauptung, dass die Länder auf nationaler Ebene nicht mehr souverän seien (SRF, Luzius Wasescha zur Zuwanderung in die Schweiz, 21. Minute), darf nicht als Entschuldigung verwendet werden, die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Selbstbestimmung aufzugeben.
Doch genau das scheint der Bundesrat in seinem „Gegenentwurf zur Eidgenössischen Volksinitiative für Ernährungssicherheit“ vorzuschlagen.
Das Ziel der Initiative des Schweizerischen Bauernverbandes ist die Ernährungssicherheit. Dafür soll die Bevölkerung mit Lebensmitteln aus vielfältiger und nachhaltiger einheimischer Produktion versorgt werden:
Das empfiehlt der Bundesrat zur Ablehnung und schlägt stattdessen einen Zusatz zum Landesversorgungsartikel (102) vor:
Der vorgeschlagene Art. 102A heisst zwar „Ernährungssicherheit“, gibt aber dem Zugang zu internationalen Agrarmärkten, lies dem Freihandel, gleichgrosse Bedeutung wie der Sicherung des Kulturlandes und dem ressourcenschonenden Konsum von Lebensmitteln. Wettbewerbsfähigkeit begründet keine Versorgungssicherheit. Ernährungssicherheit wird dann ein „echtes“ Thema, wenn der Import aus irgendwelchen Gründen gestört ist und durch Inlandproduktion ersetzt werden muss.
Die ackerfähige Fläche beträgt in der Schweiz lediglich 500 Quadratmeter pro Einwohnerin und Einwohner.
Der aktuelle Gegenvorschlag verfolgt handelspolitische Ziele – Das Thema der Initiative ist aber die Versorgungspolitik: Im Krisenfall müssen wir 60% des heutigen Konsums anbauen können!
Die Sicherung des Kulturlandes ist die absolute Voraussetzung zur Nahrungsmittelproduktion. Doch ohne die dazu nötigen Produktionsstrukturen ist Fläche wertlos. Wird das Kulturland nicht als solches benutzt, bietet es keine Grundlage zur Ernährungssicherheit, denn es fehlen die nötigen Strukturen und das nötige Wissen.
Die Initiative verlangt, dass der Bund „wirksame Massnahmen … zur Versorgung der Bevölkerung“ trifft – der Gegenvorschlag spricht von „günstigen Rahmenbedingungen … der Grundlagen für die landwirtschaftliche Produktion“. Die Ernährungssicherheit per se, der Kern der Initiative, scheint verloren gegangen zu sein. – Weil sie wie eingangs erwähnt derzeit ja gegeben sei.
Noch ein Gesetz
Die Ernährungssicherheit wird (logisch!) auch im Landesversorgungsgesetz thematisiert. Dieses wird revidiert – doch auch der aktuelle Änderungsentwurf gibt Grund zur Sorge:
Kann heute der Bundesrat bei „zunehmender Bedrohung“ Massnahmen ergreifen „zur Steigerung und Anpassung der inländischen Produktion in der Landwirtschaft (wie Durchführung von Ausbau- und Nutzungsprogrammen, Einführung der Anbau- und der Ablieferungspflicht)“, scheint man in der vorgeschlagenen Neuversion davon auszugehen, dass diese Massnahmen nicht mehr nötig seien. Jedenfalls wurden sie ersatzlos gestrichen. Das vereinfacht bei gutem Wetter den Freihandel, aber bei schlechtem Wetter fehlen die Strukturen. Die angesprochene Nachhaltigkeit, die es zu unterstützen gelte, kriegt dadurch einen fahlen Beigeschmack.
Dieser fragwürdige Revisionsentwurf des Landesversorgungsgesetzes würde vom als Gegenvorschlag formulierten Artikel 102A BV untermauert.
Und jetzt?
Der Vorschlag des Bundesrates zu Art. 102A BV baut die Ernährungssicherheit der Schweiz ab und ist in allen Teilen abzulehnen.
Trotz der auch von uns bedauerten Initiativeninflation der letzten Jahre sind alle drei themenverwandten Initiativen, die momentan im Sammelstadium sind, wichtig damit die Agrarpolitik wirklich neu diskutiert werden muss und neu ausgerichtet werden kann:
FAIR FOOD INITIATIVE:
Hier geht es um die Förderung von Lebensmitteln aus einer naturnahen, umwelt- und tierfreundlichen Landwirtschaft mit fairen Arbeitsbedingungen. Importe sollen dieselben Standards erfüllen.
INITIATIVE FÜR ERNÄHRUNGSSOUVERÄNITÄT:
Die Initiative will in der Schweiz das Prinzip der Ernährungssouveränität, so wie es von Via Campesina definiert wurde, umsetzen, die Landwirtschaft zu erhalten und sogar eine ökologische Intensivierung der Produktion anzustossen.
HORNKUH INITIATIVE:
Die Landwirtschaft soll ihre mulifunktionalen Aufgaben erfüllen können. Dazu soll der Bund Produktionsformen, die besonders naturnah, umwelt- und tierfreundlich sind fördern.
Wir vertrauen darauf, dass Ernährungssicherheit immer gegeben sein wird.
Vertrauen ist gut …
Doch wenn wir selber kontrollieren wollen, was wir essen, dann müssen wir zuerst kontrollieren, was in unserer Verfassung und in unseren Gesetzen steht.
Deshalb JA zu den drei Initiativen.
Deshalb NEIN zum Gegenvorschlag des Bundesrates!